Man darf nicht nach beschönigenden Worten suchen: der Überfall der Hamas auf Israel war brutal und grausam. Aber mit Israels brutaler Rache versinkt der Nahe Osten noch mehr im Chaos. Die Fronten werden sich noch mehr verhärten, wenn das Auge-um-Auge und Zahn-um-Zahn-Prinzip die Oberhand behält. Eine friedliche Zukunft wird dann für sehr lange Zeit in dieser Region unmöglich sein. Aber das nahöstliche Desaster ausschließlich an der Hamas festzumachen, heißt, den Konflikt zu enthistorisieren, ihn also als ahistorisch hinzustellen und alles außer Acht zu lassen, was zu der heutigen Konstellation geführt hat, und einer Seite – eben der palästinensischen – die alleinige Schuld zuzuweisen. Das geht an der politischen und historischen Wahrheit völlig vorbei.
Kern des Nahostkonfliktes ist die Tatsache, dass die Zionisten den Palästinensern ihr Land geraubt, den größten Teil dieses Volkes aus ihrer Heimat vertrieben, das Land mit jüdischen Einwanderern besiedelten und die verbliebenen arabischen Menschen nicht nur als „Fremde“, sondern als „Feinde“ einstuften, sie mit allen gewaltsamen Mitteln unterdrückten und jedes gleichberechtigte Zusammenleben mit ihnen bis heute verweigerten. Den Widerstand gegen solches kolonialistisches Vorgehen, also das Einfordern ihres Rechts auf Selbstbestimmung und die Einhaltung der Menschenrechte, setzten die Zionisten mit „Terrorismus“, „Völkermord“ und „Antisemitismus“ gleich. Ihr Machtanspruch auf und in Palästina schuf überhaupt erst die Auseinandersetzung mit den Arabern – speziell mit den Palästinensern.
Der Westen akzeptierte den zionistischen Anspruch auf Palästina von Anfang an, weil der zionistische Wertekanon weitgehend westlichen Wertevorstellungen entsprach – die „einzige Demokratie im „Nahen Osten“. Eine unsinnige Bezeichnung, weil „Staat der Juden“ und Demokratie sich widersprechen, denn andere ethnische Gruppen sind von der demokratischen Teilnahme weitgehend ausgeschlossen. Israel ist so gesehen vielmehr eine Ethnokratie, das heißt, eine ethnische Gruppe – eben Juden – hat die absolute Dominanz. Im Westen wird zudem verdrängt, dass der Antisemitismus in Europa die Hauptursache für die Entstehung des Zionismus war und deshalb auch für den andauernden Konflikt im Nahen Osten mitverantwortlich ist.
Die zionistische Utopie, maßgeblich von dem Begründer der zionistischen Ideologie Theodor Herzl entworfen, sah vor, dass der Judenstaat ein Staat wie jeder andere werden sollte, vor allem aber sollte er den Juden Sicherheit vor Verfolgung und Eliminierung geben. Israel hat dieses utopische Ziel nicht erreicht, es ist an diesem Anspruch vollständig gescheitert. Zwei Gründe sind für dieses Scheitern zu nennen. Erstens ist Israel kein normaler Staat, weil seine Existenz auf der gewaltsamen Herrschaft über ein anderes Volk beruht. Der zweite Grund hängt eng mit dem ersten zusammen. Israel kann den Juden keine Sicherheit geben, es ist – der Hamas-Anschlag belegt es – das unsicherste Land für Juden überhaupt. Nirgendwo sind Juden so gefährdet wie in „ihrem“ Staat.
Erweitert man die Frage, warum das so ist, dann kann die Antwort nicht lauten: Weil Israel durch den „palästinensischen Terrorismus“ von außen gefährdet ist. Vielmehr sind es die zionistische Ideologie und die aus ihr abgeleitete und umgesetzte Politik, die den Konflikt mit den Palästinensern permanent am Leben erhalten, ihn immer neu entfachen wie jetzt die Katastrophe um den Angriff der Hamas und seine Folgen. Die israelisch-deutsche Historikerin Tamar Amar-Dahl hat in ihrem Buch „Das zionistische Israel. Jüdischer Nationalismus und die Geschichte des Nahost-Konflikts“ die Kernpunkte dieser Ideologie zusammengestellt.
Sie konstatiert: Eretz Israel (Großisrael) ist das Land des jüdischen Volkes, es gehört ausschließlich den Juden. Es gibt infolgedessen keinen Disput um Palästina, sondern nur die Palästinenser-Frage steht auf der israelischen Tagesordnung. Der Konflikt wird allein sicherheitspolitisch – mit militärischen Begriffen formuliert, also letztlich entpolitisiert und dem Militär überlassen. Die Palästinenser sind die „Anderen“, die „out-group“ der zionistischen Utopie. Sie gilt es zu verdrängen – aus dem Bewusstsein und aus der Realität zu entfernen. Ihre Diskriminierung, Unterdrückung und Vertreibung ergibt sich daraus von selbst.
Die Ursache des Konflikts wird nicht etwa in der eigenen Politik, der Kriegs-, Siedlungs- oder Bevölkerungspolitik gesehen, sondern in der „umfassenden Feindseligkeit“, in der „Mentalität der Anderen“. Die Gewalt der „Anderen“ bzw. der „arabische Vernichtungswille“ bilden im israelischen Bewusstsein die Grundlage für den Konflikt. Tamar Amar-Dahl zieht daraus die Bilanz: „So erklärt sich das historisch gewachsene, entpolitisierte Konfliktverständnis, das die Grundlage für die politische Ordnung, für die politische Kultur und für das Selbstverständnis des zionistischen Israel bildet.“ Israel hat also – anders gesagt – mit dem Konflikt nichts zu tun. Es sind die „Anderen“.
Der zionistische Staat wurde im Krieg geboren, dem Krieg verdankt er seine nationalstaatliche Existenz, so die Autorin. Krieg ist deshalb positiv konnotiert. Durch das Gefühl des ständigen Bedrohtseins genießt das Sicherheitsdenken, das aber nur militärisch verstanden wird, höchste Priorität. Das israelische Kollektiv ist deswegen sowohl institutionell (Politik, Militär, Gesellschaft, Wirtschaft, Industrie und Justiz) als auch mental auf Krieg fixiert.
Frieden ist deshalb nur durch militärische Stärke und Überlegenheit über die „Anderen“ denkbar, nicht durch politische Kompromisse. Frieden wird zwar ständig gefordert, doch die israelische Politik hat nie versucht bzw. die Bereitschaft gezeigt, Frieden mit Zugeständnissen und dem notwendigen Preis für einen Ausgleich zu erreichen. Frieden kann es nach israelischem Verständnis nur geben, wenn der zionistische Staat militärisch unbesiegbar ist. Es ist undenkbar, Vergeltungsaktionen – wie jetzt im Gazastreifen – zu vermeiden, um den Hass abzuschwächen, weil Israel sich dann auf der Verliererseite sehen würde und um seine Existenz fürchten müsste.
Eine Friedenslösung durch Landteilung mit den Palästinensern (Zwei-Staatenlösung) ist undenkbar, weil Eretz Israel das „Land der Urväter“ ist, die Heimat des jüdischen Volkes. Frieden kann sich der Zionismus nur vorstellen, wenn die militärische Kontrolle über Eretz Israel und dessen „Araber“ aufrechterhalten werden kann. Verhandlungen mit den Palästinensern sind so gesehen sinnlos, weil diese „Anderen“ einem Frieden mit Israel nicht gewachsen sind, es gibt also keinen Gesprächspartner für Israel. Dass solche ideologischen Festlegungen eine Versöhnung mit den Palästinensern unmöglich machen, versteht sich von selbst. Tamar Amar-Dahl: „Frieden wird zum Drang, sich des palästinensischen ‚Feindes‘ zu entledigen, er wird zum Mittel, die ‚Trennung von den Anderen‘ herbeizuführen, um endlich die ersehnte zionistische Utopie erlangen zu können.“
Zu den hier angeführten ideologischen Dogmen des Zionismus kommt ein ganz wichtiges zusätzliches Argument: die Frage der Moral. Sehr früh schon setzte sich die Auffassung durch, dass der Zionismus gegen den Strom agieren müsse und gegen den Willen der Mehrheit bzw. gegen den Gang der Geschichte seine Ziele erreichen müsse. Der Zionismus unterliege „anderen Maßstäben als die formale Moralität.“ Mit anderen Worten: Den Zionisten ist „alles erlaubt“, Menschenrechte und Völkerrecht interessieren sie nicht. Soweit Tamar Amar-Dahl.
Es folgt aus dem Gesagten, dass Israel mit dieser Ideologie friedensunfähig ist. Die blutige Auseinandersetzung mit den Palästinensern, die unendliche Kette von Massakern, die der zionistische Staat an den Palästinensern begangen hat, und das von brutaler Gewalt geprägte Okkupationsregime, das im Grunde seit der Gründung des Staates 1948 besteht (die Palästinenser in Israel mussten bis 1966 unter einer Militärdiktatur leben) haben aus jüdischen Opfern Täter gemacht, denn der Staat für die Juden wurde mit der Katastrophe des palästinensischen Volkes bezahlt. Das ist die Tragödie des zionistischen Staates.
Durch seine Friedensunfähigkeit hat sich Israel in eine politische Sackgasse manövriert, denn weder die Zweistaaten- noch die Einstaaten-Lösung wird Israel den Palästinensern zugestehen, was bedeutet, dass dieses Volk überhaupt keine Option mehr hat – außer Erniedrigung, Unterdrückung und Verzweiflung. In diesen seit Jahrzehnten andauernden Gewaltprozess muss man auch die Attacke der Hamas einordnen. Das heißt nicht, sie moralisch zu rechtfertigen und zu entschuldigen, aber sie ist nur aus der tragischen Konstellation zu verstehen, in die Israel die Palästinenser gebracht hat und für die Israel allein verantwortlich ist.
Wenn die deutsche Politik nicht mehr dazu anzubieten hat als die vollständige Identifizierung mit Israel („Wir sind alle Israelis!“) und den Konflikt auf „Terrorismus“ und „Antisemitismus“ reduziert, dann hat sie weder die blutige Logik des Konflikts verstanden noch leistet sie mit dieser Einseitigkeit des Blickes und der sich hier offenbarenden Realitätsblindheit einen Beitrag zur Beendigung dieses schrecklichen Dramas. Wenn man sich schon auf den Holocaust bezieht, dann kann die richtige Schlussfolgerung aus diesem Mega-Verbrechen nur sein: die universelle Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts. Mit ihrer einseitigen Identifizierung mit Israel, seiner „inhumanen Ideologie“ (der israelische Philosoph Omri Boehm) und der totalen Nicht-Beachtung der Rechte der Palästinenser hat Deutschland immer auf der falschen Seite der Geschichte gestanden.