Die Grünen waren einmal als anti-bellizistische Partei angetreten – lange ist es her! Heute setzt ihr Sicherheitsbegriff allein auf die Kraft der Waffen. Tempora mutantur! Das neue „strategische Konzept“, das Außenministerin Annalena Baerbock jetzt vorgestellt hat und das weiterentwickelt werden soll, strotzt nur so von militärischen Aussagen und Forderungen: Wehrhaftigkeit und noch einmal Wehrhaftigkeit, wiederholt die Ministerin immer wieder, sei das Gebot der Stunde. Die deutsche Außenpolitik müsse über eine „Sicherheitsstrategie mit klarem Wertekompass in der Hand“ verfügen und Deutschland müsse innerhalb der NATO „mehr Verantwortung“ tragen, das heißt: aufrüsten und nochmal aufrüsten – auch atomar! Und der SPD-Kanzler steht mit seinem Milliarden-Aufrüstungsprogramm ja voll hinter den Grünen.
Diese Forderungen der Grünen sind nicht allein auf Putins völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine zurückzuführen, die Partei hat sie auch schon vor diesem Krieg erhoben, sie hat das NATO-Vordringen bis an die Grenzen Russlands und die Aufrüstung der Ukraine als westlichen Vorposten aktiv unterstützt. Da eine solche Politik die durchaus berechtigten russischen Sicherheitsbedürfnisse nie ernstgenommen hat, müsste sie sich eigentlich jetzt fragen, wie weit sie zu der verhängnisvollen gegenwärtigen Entwicklung ihren Beitrag geleistet hat, denn Putins grausamen Krieg ist auch eine schwere Niederlage der westlichen Sicherheitspolitik.
Diese Frage betrifft aber nicht nur die Grünen, sondern die westliche Außen- und Sicherheitspolitik – inklusive natürlich der deutschen – insgesamt: Wie ist es zu den Katastrophen in Palästina, im Irak, in Syrien und Afghanistan gekommen? Und auch Putins Krieg hat seine Vorgeschichte. Als die Sowjetunion zusammenbrach, bot sich für den Westen die einmalige Chance, das visionäre Angebot Michail Gorbatschows für ein „gemeinsames Haus Europa“ zu nutzen, aber der damalige US-Präsident George W. Bush lehnte es ab, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Der Westen wollte die Friedensdividende nach dem gewonnenen Kalten Krieg allein kassieren, und die USA sahen endlich ihren Traum erfüllt, die einzige globale Supermacht werden zu können. Europa hat sich diesem Vorhaben willig zum eigenen Schaden gefügt. Vor den Trümmern dieser Politik stehen der Westen und Russland heute.
Die richtigen Schlüsse aus einer verfehlten Politik zu ziehen, liegt der grünen Außenministerin aber fern. Sie verfolgt ein rein militärisches Sicherheitskonzept, das sich ausschließlich auf Hochrüstung stützt. Mit anderen Worten: Man will das brennende Ölfass mit Benzin löschen. Am Rande bemerkt: Die Militärausgaben der USA, der NATO und der EU-Staaten zusammen sind heute schon zehn Mal so hoch wie die Russlands – was will man da noch steigern? Trotz Putins Ausbrechen aus allen völkerrechtlichen und zivilisatorischen Konventionen, es wird sich auch in Zukunft nichts an der Erkenntnis ändern: Sicherheit gibt es – gerade beim Stand der heutigen Waffentechnik – nicht mehr voreinander, sondern nur noch miteinander; die Sicherheit des Gegners ist Teil der eigenen Sicherheit; alle verlieren zusammen, wenn sie nicht gemeinsam gewinnen wollen. (Bernd Greiner)
Auch wenn solche Gedanken angesichts des Ukraine-Krieges wie Landesverrat klingen, es wird eine Zeit nach Putin geben und Deutschland und Europa werden ein Arrangement auf Gegenseitigkeit mit Russland treffen müssen, wenn der Frieden auf dem Kontinent erhalten bleiben soll – vermutlich dann gegen die Interessen der USA, die in Europa ihre ganz eigenen egoistischen Supermachtinteressen verfolgen, die mit den europäischen nicht kongruent sind.
Annalena Baerbocks Außenpolitik soll auch „wertebasiert“ sein. Und in diesem Zusammenhang führt sie schön klingende Argumente an: Völkerrecht, „Unverletzlichkeit des Lebens“, also „den Schutz vor Gewalt und Krieg“, die „Sicherheit der Freiheit unseres Lebens in der Demokratie“ und „die Sicherheit der Grundlagen unseres Lebens“. Sogar die Geschichte führt sie als Beleg für ihre neue Außenpolitik an: Die deutsche Schuld für Krieg und Völkermord bedeute die Verpflichtung, „jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind.“
Wie schön gesagt! Annalena Baerbock war kürzlich zum Antrittsbesuch als Ministerin in Israel. Was für eine wunderbare Gelegenheit, genau das einzufordern, was sie als moralische Prinzipien für ihre Außenpolitik hinstellt. Alles, was sie da fordert, trifft auf die in Unterdrückung und Apartheid lebenden Palästinenser zu. Aber Annalena Baerbock hat (bis auf eine milde formulierte Verurteilung des Siedlungsbaus) kein Wort der Kritik an der Besatzung, Apartheit und Unterdrückung eines ganzen Volkes dort gesagt, sondern nur die unverbrüchliche Freundschaft mit Israel betont. Außer einem Austausch von Phrasen ist offenbar nichts gewesen.
Man kann an diesem Punkt schon sagen, dass die „werteorientierte Außenpolitik“ der Grünen schon gescheitert ist, bevor sie richtig begonnen hat, weil sie nicht ehrlich und radikal Werte einfordert, wo dies dringend nötig und „notwendig“ (die Not wendend!) ist, sondern interessenorientiert nur da, wo es angenehm, risikolos und opportun ist. Der Rest wird verschwiegen und verdrängt.
Einen anderen Beleg für diese Sicht liefert gerade der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck. Er ist nach Katar und in die arabischen Emirate geflogen, um dort Öl- und Gaslieferungen zu sichern, da man die Energieabhängigkeit von Russland reduzieren will. Dafür kann man vielleicht noch Verständnis haben. Aber davon abgesehen, dass dann neue Abhängigkeiten von den Arabern entstehen, ist das auch moralisch ein höchst fragliches Unternehmen, denn die Emirate führen zusammen mit den verbündeten Saudis schon seit Jahren einen grausamen Krieg im Jemen.
Die von Annalena Baerbock propagierte „wertebasierte Außenpolitik“ strotzt also nur so von Widersprüchen. Und letzten Endes ist sie auch wenig originell. Denn das missionarische, „werteorientierte“ Modell, anderen Völkern die Demokratie und vor allem auch die Marktwirtschaft mit Gewalt einzupflanzen, stammt von den ultra-konservativen Neocons in den USA und hat in den letzten Jahren überall, wo man es angewandt hat, Schiffbruch erlitten. Was die Grünen außenpolitisch umsetzen wollen, ist kein Neuanfang, sondern alter Wein in alten Schläuchen. Aber der Hegemon in Washington wird sich über seine gelehrigen Schüler in Europa und besonders in Deutschland freuen, denn letzten Endes bedeutet die „neue grüne Außenpolitik“ nicht anderes als die Zustimmung, dass der alte Kontinent nicht über den Kopf Amerikas hinweg eigene außenpolitische Wege geht.
20.03.2022