Der Völkermord an den Palästinensern in Gaza müsste eigentlich vielen Deutschen die Augen geöffnet haben, dass ihr positives Israel-Bild mit der Realität dieses Staates nichts zu tun hat. Denn wie kann ein Staat, der sich auf das moralische Vermächtnis des Holocaust beruft und den monopolistischen Anspruch auf die „Einzigartigkeit“ dieses Verbrechens erhebt, selbst einen Genozid begehen, ohne dass sein Renommee als Staat allergrößten Schaden nimmt, wenn er nicht sogar seine Legitimität verliert?
In der deutschen Politik und den Leitmedien dieses Landes ist das kein Thema. Man hält eisern an den Grundlagen des Verhältnisses zu Israel fest: also gemeinsames Holocaust-Erinnern, Unterstützung dieses Staates als Staatsräson und das Vertreten eines gemeinsamen Antisemitismus-Begriffes. Letzteren braucht man, um jede Kritik an den ersten beiden Säulen der Beziehung zu Israel und an dessen Vorgehen gegen die Palästinenser abzuwehren. Israel hat nach westlicher Auffassung – besonders unterstützt von der deutschen Politik – völlige Handlungsfreiheit. Es braucht sich nicht einmal für einen Völkermord wie jetzt in Gaza zu rechtfertigen, geschweige denn Strafen oder Sanktionen befürchten – wie etwa Russland für seinen Überfall auf die Ukraine. Israel steht für den Westen außerhalb des Gesetzes – also von Völkerrecht und Menschenrechten – ihm ist „alles erlaub!“
In Deutschland gibt es nicht viele Medien, die aussprechen, was gerade in Gaza passiert. Da ist immer noch die Rede von der „Selbstverteidigung“ gegen die „Terroristen“ der Hamas. Schilderten diese Medien die wirklichen Geschehnisse im Gazastreifen, müsste man das unaufrichtige Verhältnis, das Deutschland mit Israel verbindet und das das ideologische Fundament des deutschen Staates ist, in Frage stellen. In anderen europäischen Staaten und selbst in Israel ist das anders. Dort kennen viele Intellektuelle diese Tabus nicht, die in Deutschland einen ehrlichen, realitätsbezogenen Diskurs über Israels Vorgehen gegen die Palästinenser verhindern.
Sie nennen die Dinge beim Namen und kommen deshalb zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Ein solch aufrichtiger und renommierter Intellektueller ist der italienische Historiker Enzo Traverso, der jetzt einen kleinen Essay-Band mit dem harmlos klingenden Titel „Gaza im Auge der Geschichte“ vorgelegt hat, aber dieses kleine Buch hat es in sich! Schon im Vorwort teilt der Autor seine tiefe Betroffenheit und Enttäuschung über die deutsche Haltung zu Israels Genozid im Gazastreifen mit. Seine Kritik lautet: „Die Erinnerung an einen Genozid zu mobilisieren, um einen anderen Genozid in der Gegenwart zu billigen, ist etwas Neues und historisch noch nie Dagewesenes.“ Diesen Vorwurf kann man auf die Regierungen in Israel und Deutschland beziehen, denn beide instrumentalisieren den Holocaust, um den Genozid im Gazastreifen zu rechtfertigen. Es ist in jedem Fall ein Vorwurf, der schlimmer nicht sein könnte!
Damit unterzieht Traverso die gesamte deutsche Erinnerungspolitik einer massiven Kritik. Denn das deutsche Gedenken an den Holocaust dient dem Autor zufolge – sakralisiert und institutionalisiert – einzig dem Ziel, Israel in jeder Hinsicht zu unterstützen und Unterstützer der Palästinenser unter dem Vorwand des Antisemitismus zu verfolgen. Damit würden die moralischen, epistemologischen und politischen Bezugspunkte im Umgang mit dem Holocaust aber verwischt, was verheerende Folgen zeitigte, denn die Unterschiede zwischen Gut und Böse, zwischen Unterdrücker und Unterdrückten, zwischen Tätern und Opfern gingen verloren, was ein großer Schaden für die Demokratie sei. Traverso stellt in diesem Zusammenhang die an die deutsche Politik gerichtete Frage: Wozu dient heute die Erinnerung, wenn sie nicht dazu beiträgt, die Todesmaschinerie in Gaza und im Westjordanland zu stoppen? Sich diese Frage nicht zu stellen, bedeutet, das Gedenken in eine rituelle, entleerte Zeremonie zu verwandeln.
Den Grundfehler der deutschen Erinnerungspolitik sieht er in der verengten Auffassung des Holocaust – in der von Israel übernommenen Behauptung, er sei „einzigartig“. Das sei aus mehreren Gründen unfruchtbar und unhaltbar. Wissenschaftlich: Historische Ereignisse seien immer vergleichbar; politisch: Verbrechen müssten verstanden und nicht nur erinnert werden, sonst bestehe die Gefahr der Wiederholung; moralisch: weil so Hierarchien zwischen Opfern geschaffen würden.
Durch die kritiklose Übernahme der israelischen Holocaust-Rezeption mit ihrem Einzigartigkeitsanspruch und durch die bedingungslose Unterstützung Israels sieht Traverso die ganze demokratische Kultur, Pädagogik und Erinnerung, die Deutschland in Jahrzehnten vor allem nach dem Historiker-Streit und der Wiedervereinigung aufgebaut habe, gefährdet. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin sei deswegen längst kein Symbol mehr für ein qualvolles Geschichtsbewusstsein und die Tugend der Erinnerung, es stehe mehr und mehr für nationale Heuchelei.
Die bedingungslose Unterstützung Israels – also die deutsche Staatsräson – ist für Traverso noch aus einem anderen Grund bedenklich. Denn die Staatsräson steht über jedem staatlichen Gesetz. Wenn Deutschland sich nun bei der absoluten Unterstützung Israels auf die eigene Staatsräson berufe, gebe sie implizit zu, dass ihre Politik moralisch fragwürdig sei. Der Bundeskanzler wisse, dass Israel schwere Verbrechen in Gaza begehe, gestützt auf die Staatsräson meine er aber, dass sie „gerecht und notwendig“ seien, weil sie Israels Macht festigten. Im Namen der Staatsräson toleriere die deutsche Politik also Israels Verbrechen, was dem Ansehen Deutschlands sehr schade.
Jede Kritik an der deutschen Haltung zu Israel und an der Politik dieses Staates wird sogleich mit dem Antisemitismus-Vorwurf bedacht und verfolgt. Einen solchen Antisemitismus-Begriff nennt Traverso „entstellt“, „im Sinn verdreht“ und ein Produkt der „Einbildung“, denn er habe nur noch das eine Ziel, den zionistischen Staat vor Kritik zu schützen. So gesehen sei es sogar antisemitisch, Israels Völkermord in Gaza abzulehnen.
Traverso kommt zu dem Ergebnis, dass gewisse Züge des Zionismus und seiner Politik durchaus Parallelen mit dem Nationalsozialismus aufwiesen. Eine Feststellung, die auch durch die innenpolitische Entwicklung in Israels belegt wird, denn Faschisten nehmen inzwischen entscheidende Positionen in der israelischen Regierung ein. Außerdem haben sich Rechtsradikale aus Europa ideologisch und politisch an Israel angenähert, sie verbindet die gleiche Vorstellung von einem völkischen, ethnisch homogenen Staat.
Die israelische Politik liefert selbst die Argumente, dass man Parallelen und Analogien zu den Nazis sehen kann. Traverso vergleicht die Zerstörung des Gazastreifens durch die israelische Armee mit der Zerstörung des Warschauer Ghettos durch die deutsche Wehrmacht. Er schreibt: „Die Kämpfer, die aus den Tunneln auftauchen, um eine Besatzungsarmee zu schlagen, von der sie als ‚Tiere‘ beschimpft werden, können nur an die jüdischen Kämpfer des Ghettos erinnern.“
Und ein anderer Vergleich drängt sich auf: „Die überwältigenden Bilder, die die israelischen Soldaten in den sozialen Netzwerken veröffentlichen, wie sie sich stolz und lachend neben gedemütigten Palästinensern zur Schau stellen, erinnern an die unerträglichen Erinnerungsfotos lachender deutscher Wehrmachtssoldaten in Polen und Belarus neben erhängten Partisanen. Mit den Videos von toten Kindern, Helfern und Zivilisten, die von Snipern und Drohnen getötet und dann mit Bulldozzern weggekarrt werden, die sich in den sozialen Netzwerken (trotz der Zensur der Mainstream-Medien) häufen, mit den Entdeckungen von Massengräbern, die mit Hunderten von Leichen mit gefesselten Händen gefüllt sind, verfestigt sich der Eindruck einer Shoa mit Schusswaffen und eines geplanten Massenmordes.“
Das Besetzen der Zionisten von Land, das ihnen nicht gehört, erinnert Traverso an den „Lebensraum“-Begriff der Nazis: „Heute wurde die Idee des ‚Lebensraumes‘ vom Zionismus übernommen, der seit der Entstehung Israels seine Grenzen unter Missachtung des Völkerrechts immer weiter ausdehnt. Dabei handelt es sich um die territoriale Dimension des zionistischen theologisch-politischen Projekts, wonach die Zugehörigkeit dieses Raumes zu den Juden durch die heiligen Schriften bestimmt ist.“
Traverso steht mit diesen NS-Vergleichen nicht allein. Auch kritische Israelis sahen da schon Parallelen. So hat der israelische Journalist Gideon Levy den abgeriegelten und belagerten Gazastreifen schon vor dem 7. Oktober 2023 als „Konzentrationslager“ bezeichnet. Und der israelische Philosoph Jeshajahu Leibowitz, der israelische „Voltaire“, hat die jüdischen Siedler im Westjordanland als „Judeo-Nazis“ tituliert. Was ja gut zur Aneignung palästinensischen Landes als jüdischem „Lebensraum“ passt.
Um Landraub, Besatzung, Vertreibung und jetzt auch den Genozid in Gaza zu rechtfertigen, hat Israel ein einmaliges Propaganda-System entwickelt. Seine immer wiederholte „paradoxe Erzählung“ stelle die Realität auf den Kopf und mache Israel zum Opfer und nicht zum Unterdrücker, schreibt Traverso und geht ausführlich auf die von dieser Propaganda nach dem 7. Oktober verbreiteten Falschmeldungen von dem Mord an Babys und schwangeren Frauen ein – alles Fakenews, für die es bis keinerlei Belege gibt.
Der Autor bleibt auch dabei, ohne in irgendeiner Weise das Hamas-Massaker zu rechtfertigen: Die Hamas ist eine Widerstandsorganisation und keine „Terrorbande“. Er zählt sehr gut nachvollziehbare Gründe für die Attacke der Hamas auf: „Der 7. Oktober kam nicht aus dem Nichts. Er ist eine extreme Folge der jahrzehntelangen Besatzung, Kolonisierung, Unterdrückung und Erniedrigung. Alle Formen des friedlichen Protestes wurden blutig niedergeschlagen.“ Zum ersten Mal hätten Schrecken, Ohnmacht, Angst und Demütigung die Seiten gewechselt. Früher oder später hätte der Druckkessel platzen müssen. Traverso fügt hinzu: „Der Terrorismus der Hamas ist nur die dialektische Doppelung des israelischen Staatsterrorismus.“ Was heißt: Die Unterdrücker bringen den Terrorismus der Unterdrückten hervor. Daraus zieht die Hamas ihre Existenzberechtigung.
Fast alle strittigen Punkte, die Traverso in seinem Essay aufzählt, sind im Westen – besonders in Deutschland tabuisiert. Aber sie sind deshalb nicht weniger real und müssten eigentlich in einem größeren öffentlichen Diskurs debattiert werden. Dass dies nicht geschieht, und man immer wieder in Falschdarstellungen und Ideologien flüchtet, lässt Traverso mehrmals zum Vorwurf der Heuchelei und Doppelmoral greifen. Deshalb spricht er Netanjahu und allen seinen Unterstützern in der ganzen Welt das Recht ab, unter Berufung auf den Holocaust in Gaza und im Westjordanland „in unserem Namen zu handeln“.
Israel stellt der Autor eine düstere Prognose für die Zukunft aus. Es habe sich durch seine Zerstörungswut jeglicher moralischer Legitimität beraubt. Er schließt seinen Essay mit den Sätzen: „Was heute auf dem Spiel steht, ist nicht die Existenz Israels, sondern das Überleben des palästinensischen Volkes. Sollte der Gaza-Krieg in eine zweite Nakba enden, würde dies die Legitimität Israels endgültig untergraben. Dann könnten weder US-amerikanische Waffen noch westliche Medien noch die deutsche Staatsräson noch die verfälschte und verächtlich gemachte Erinnerung an die Schoa sie wiederherstellen.“
Das Buch Traversos sagt genau das, was zur gegenwärtigen Lage im Gazastreifen und zu den internationalen Reaktionen darauf gesagt werden muss, in Deutschland aber nicht gesagt wird bzw. nicht gesagt werden darf. Er tut das offen, rücksichts- und tabulos. Es ist diesem Buch allerweiteste Verbreitung zu wünschen, weil es den falschen und verlogenen deutschen Diskurs über Israel, Erinnerung, Staatsräson und Antisemitismus in die richtige Richtung zu lenken vermag und Heuchelei und Doppelmoral, die bei uns die Debatte bestimmen, eine klare und deutliche Absage erteilt.
Traverso, Enzo: Gaza im Auge der Geschichte, Wirklichkeit Books Berlin 2024, ISBN 978-3-948200-19-0, 18 Euro
30.12.2024