Einen „Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg – von Afghanistan bis Gaza“ betitelt der Publizist Emran Feroz, der aus Afghanistan stammt und für deutsche und englisch-sprachige Medien arbeitet, sein neues Buch. Es ist eine überaus kritische Abrechnung vor allem mit seiner eigenen Berufszunft: den deutschen Journalisten/innen, die sich mit dem Nahen oder Mittleren Osten beschäftigen. Sein Vorwurf: Diese Zunft hat den Krieg am Hindukusch genauso falsch, weil einseitig und realitätsfern, eingeschätzt und dargestellt wie Israels Rachefeldzug gegen die Hamas. „Sie (die Zunft) hat es in weiten Teilen nicht geschafft, den israelischen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung des Gazastreifens, den wir alle, so pervers es klingt, im Minutentakt im Livestream erleben, als das zu benennen, was er ist. Nämlich ein grauenvoller Zivilisationsbruch“, schreibt er gleich auf der ersten Seite seines Buches.
Aber Feroz belässt es nicht an der sehr berechtigten Kritik am deutschen oder westlichen Journalismus. Er holt auch zum großen Schlag gegen die Politik der westlichen Staaten aus, denen er vorwirft, ihre stets hoch gehaltenen Werte von Humanität, Demokratie und Völkerrecht permanent zu missachten und zu verletzten. Soll heißen, dass zum Beispiel die Menschenrechte für Millionen nicht-weiße Menschen nicht gelten. So seien die Bewohner des Gazastreifens – was minutiös dokumentiert wurde – lebendig verbrannt, ausgehungert oder von Drohnen und Scharfschützen gejagt worden. Einspruch des Westens: Fehlanzeige! Feroz leitet aus diesem Morden ab, dass bei einer solchen Verachtung der eigenen Werte das System der liberalen Demokratie nicht nur gefährdet ist, sondern zerfällt.
Für den Genozid in Gaza ist eben nicht nur Israel verantwortlich, sondern auch die Liberalen und Demokraten der westlichen Gesellschaften sind mitschuldig. Der britische Soziologe Martin Shaw spricht deshalb von einem „demokratischen Genozid“. Ein Begriff, den Feroz befürwortet. Aber nicht nur westliche Politiker sind Mittäter, sondern, weil sie Israels Morden mit Waffenlieferungen und rechtlicher sowie moralischer Rechtfertigung unterstützt haben, sondern auch die Vertreter der Medienbranche.
Da gibt es leider nur wenige Ausnahmen. „Warum publizieren liberale Zeitungen in Deutschland menschenfeindliche Stücke, in denen der Massenmord an arabisch-stämmigen Menschen gutgeheißen und das Aushungern der palästinensischen Bevölkerung in Gaza als „strategisch richtig“ bezeichnet wird? fragt der Autor. Diese unsägliche Äußerung war in der ZEIT (27/2025) zu lesen, und ihr Autor war der deutsch-jüdische Schriftsteller Maxim Biller.
Feroz macht als Ursache für solch inhumanen Journalismus vor allem Rassismus und Ignoranz aus. Er führt als Beleg die unterschiedliche Sicht auf Ukrainer und Araber an. Erstere sind „hellhäutig, weiß und christlich“, Araber sind „braunhäutig, muslimisch“ und stehen dazu noch im Verdacht des Antisemitismus. Eine solche ideologische Sicht sowie das „Eingebettet-Sein“ in das israelische Narrativ führen dann dazu, dass deutsche Medien – vor allem die Springer-Zeitungen – behaupten können, nicht Israel trage die Verantwortung für den Genozid in Gaza, sondern die Hamas. Palästinensische Journalisten, die direkt vor Ort von dem genozidalen Geschehen berichteten, sind für die Springer-Medien „Hamas-Journalisten“ oder „Terror-Journalisten“. Der Fotograf Anas Ftheia, der hungernde Menschen im Gazastreifen fotografierte (die Fotos erschienen im SPIEGEL) wurde von Springers BILD-Zeitung als „Hamas-Propagandist“ diffamiert. Offenbar billigen diese Medien auch die Liquidierung solcher „Hamas-Journalisten“ durch die israelische Armee. Inzwischen sind es mehr als 240! Ein weiterer Rechtfertigungsgrund für die ideologische Realitätsverweigerung, den Völkermord in Gaza anzuerkennen, ist der im Westen fest verankerte Glaube, dass „wir“ die „Guten“ sind und deshalb der Vorwurf eines Völkermords völlig absurd ist.
Feroz sieht deutliche Parallelen zwischen dem Krieg in Gaza und dem in Afghanistan. Für beide Konflikte macht er die Gewalt des Westens als Ursache aus: „Das Leid in Gaza begann nicht mit dem Genozid. Es ist auffällig, wie wenig die Gewalt, der die Palästinenser in den letzten Jahren und Jahrzehnten ausgesetzt waren, noch erwähnt wird. Dabei war es diese Gewalt, die nicht nur in Palästina, sondern auch in Afghanistan die nächste Generation von militanten und extremistischen Kräften herangezüchtet hat. Es war die Gewalt des Westens, die stets ausgeklammert oder unter den Teppich gekehrt wurde, die die jüngste Generation von Hamas, Taliban und Co. geschaffen hat.“
Feroz macht hier auf einen sehr wichtigen Punkt aufmerksam. Die Gewalt z.B. der Hamas ist keine absolute und unabhängige Größe, sondern ist reziprok von der Intensität der israelischen Gewalt durch Besatzung und Unterdrückung abhängig. Je grausamer und brutaler die israelische Apartheid ist, desto radikaler wird auch der palästinensische Widerstand. Eigentlich ein sehr leicht zu verstehendes Faktum, das im deutschen Diskurs aber völlig tabu ist, weil Israels Image unangreifbar ist.
Angesichts der Friedensschalmeien, die US-Präsident Tramp auf sich selbst und seinen Waffenstillstandsplan anstimmt (mehr ist es ja nicht), weist Feroz auf die bittere Wahrheit hin, dass die Genozid-Überlebenden des Gazastreifens als Folge der israelischen und der westlichen Politik die nächste Generation von Militanz, Extremismus und Gewalt stellen werden. Kein Wunder: Denn in Gaza „herrschen der Gestank von Tod und Verwesung sowie die Spuren von Vertreibungen, ethnischen Säuberungen und praktisch allen anderen Rechtsbrüchen, die sich während eines Krieges ereignen können.“
Und der Westen hat dazu geschwiegen, hat es nicht nur geschehen lassen, sondern hat das Mordgeschehen aktiv unterstützt. Dagegen muss man „so laut aufschreien wie nie zuvor“, appelliert der Autor mit seinem Buch. Man kann nur hoffen, dass möglichst viele diesen Aufschrei hören. Dieses Buch ist der richtige Aufschrei zum richtigen Zeitpunkt.
Emran Feroz: Wir wollen leben! Von Afghanistan bis Gaza – Ein Aufschrei gegen Entmenschlichung und Krieg, Westend-Verlag Neu Isenburg, ISBN 978-3-9871-339-6, 12 Euro