Die Anhänger und Verteidiger Israels haben es zur Zeit schwer: Wie soll man das israelische Vorgehen im Gazastreifen angesichts von über 40 000 Toten und rund 90 000 verletzten Palästinensern sowie angesichts einer ganzen in Schutt und Asche gelegten und damit unbewohnbar gemachten Region noch rechtfertigen? Selbstverteidigung? Angesichts des Mordens und der Zerstörungen, die in keinem Verhältnis mehr zum Anlass stehen – dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober – stehe, sind alle Argumente in dieser Richtung völlig absurd. Das Völkerrecht fordert in einem solchen Fall die Verhältnismäßigkeit des Vorgehens, Israel hat solche Argumente aber wie immer, wenn es um internationales Recht geht, in den Wind geschlagen.
Das bringt auch die Freunde und Anhänger Israels, die immer schnell mit dem Antisemitismus-Vorwurf bei der Hand sind, in die Bredouille. Die Definition für Antisemitismus war früher einmal: Hass auf Juden, weil sie Juden sind. Diese Definition ist zwar heute immer noch richtig, aber Israel und seine Lobby haben inzwischen eine andere Definition durchgesetzt: Antisemitismus ist vorrangig Kritik an Israels Politik. Hier wird also der Antisemitismus-Begriff in pervertierter Weise für die Interessen eines Staates eingesetzt, der permanent gegen Völkerrecht und Menschenrechte verstößt. Aus der Definition, die ausschließlich Juden schützt, ist also eine Begriffsbestimmung geworden, die Israel schützen soll.
Wie reagieren nun die Verteidiger Israels (wenn sie nicht schweigen), wenn nicht nur zahlreiche Völkerrechtler (in Deutschland etwa Norman Paech, in den USA Richard Falk) das israelische Vorgehen im Gazastreifen als „Völkermord“ bezeichnen, sondern sogar renommierte israelische Holocaust-Forscher, die sich in dieser Materie bestens auskennen, so etwa Omer Bartov, Amos Goldberg, Lee Morchedai und Raz Segal.
Omer Bartov schreibt: Er sei fest davon überzeugt, dass Israel im Gazastreifen systematische Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord begehe. Es sei jetzt klar, dass es von Anfang an nach dem 7. Oktober das israelische Unterfangen gewesen sei, den Gazastreifen unbewohnbar zu machen, seine Bevölkerung so zu schwächen, dass sie entweder ausstirbt oder den Gazastreifen verlässt. Israel setze um, wie es in der UN-Völkerrechtskonvention von 1948 heißt, dass es „in der Absicht handelt, die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen ganz oder teilweise zu vernichten“, „indem es sie tötet, ihr schweren Schaden zufügt oder ihr Lebensbedingungen auferlegt, die ihre Vernichtung herbeiführen sollen.“
Ganz ähnlich argumentiert Raz Segal, der Israel auch Völkermord vorwirft. Wenn Israel sich bei seinem Vorgehen mit dem Holocaust rechtfertige, dann verzerre es diesen Genozid. Die entmenschlichende Sprache der israelischen Politiker (zum Beispiel Verteidigungsminister Gallant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“) diene eindeutig dazu, die weitreichende Zerstörung palästinensischen Lebens zu rechtfertigen. Die Behauptung, das Böse zu bekämpfen, lasse in ihrer Absolutheit die Unterscheidung zwischen den militanten Hamas-Kämpfern und der Zivilbevölkerung des Gazastreifens außeracht. Segal folgert aus diesen Faktoren: „Israels Ziel ist es, die Palästinenser in Gaza zu vernichten.“
Und Amos Goldberg schreibt: „Was in Gaza geschieht, ist Völkermord, denn das Ausmaß und das Tempo des wahllosen Tötens, der Zerstörung, der Massenvertreibung, des Hungers, der Hinrichtung, der Auslöschung kultureller und religiöser Einrichtungen, der Zerschlagung der Eliten (einschließlich der Ermordung von Journalisten) und der umfassenden Entmenschlichung der Palästinenser ergeben ein Gesamtbild des Völkermordes, einer bewussten Vernichtung der palästinensischen Existenz in Gaza.“ Es sei auch noch daran erinnert, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) Südafrikas Klage, den Vorwurf des Völkermords zu prüfen, angenommen hat.
Solche Argumente bringen die Verteidiger Israels jetzt natürlich in Verlegenheit, wenn ihr Schutzobjekt ganz offiziell des Völkermords beschuldigt wird und man deshalb Kritik an der Politik des zionistischen Staates nicht mehr so einfach als „Antisemitismus“ anprangern kann, weil ein solcher Vorwurf letzten Endes auf die Rechtfertigung des Völkermordes hinauslaufen würde. So hat etwa der Bundesverband der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) alle Mühe im Umgang mit der neuen Situation. Antisemitismus, liege dann vor, so heißt es da, wenn der Staat Israel als Ganzes dämonisiert und somit als rassistisches Unterfangen delegitimiert werde, weil damit antisemitische Narrative des „hinterlistigen oder boshaften Juden“ befördert werden könnten. Das ist sicher keine angemessene Antwort auf Israels genozidale Politik im Gazastreifen.
Und der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein konstatiert: „Wer Israel einen Genozid-vorwirft, handelt klar antisemitisch, weil er Israel dämonisiert, doppelte Standards anwendet und ausgerechnet dem jüdischen Staat damit Völkermord wie die Shoah vorwirft.“ Die unleugbaren und furchtbaren Fakten, die aus dem Gazastreifen bekannt werden, interessieren diesen loyalen Staatsdiener nicht. Es kann eben nicht sein, was nicht sein darf. Die Ideologie ist stärker als die Realität. Die Bundesregierung ist offensichtlich nicht gewillt, irgendwelche Konsequenzen aus dem Völkermord im Gazastreifen zu ziehen.
Nun muss ein politischer und wissenschaftlicher Diskurs über Völkermord und auch über Apartheid (auch die leugnet Klein) erlaubt sein, ohne dass schon die Möglichkeit, Narrative zu „befördern“, gleich als „antisemitisch“ angeprangert und sanktioniert werden kann. Genau in diese Richtung gehend wird aber im Bundestag – nicht öffentlich natürlich – ein Entschließungsantrag zum Schutz jüdischen Lebens verhandelt. Wenn diese Resolution verabschiedet würde, hieße das, dass wissenschaftliche Förderprojekte und vermutlich auch die Antragssteller selbst (vom Verfassungsschutz?) auf Antisemitismus überprüft würden. Und auch die Kunst müsste sich dann staatlicher Kontrolle unterwerfen.
Grundlage der Bundestagsresolution soll die Antisemitismus-Definition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) werden, die höchst umstritten ist, weil sie unter starkem israelischem Einfluss entstanden ist und deshalb auch vor allem Israels Interessen schützt. In der Definition heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.“ Juristen fragen deshalb: Soll eine „Wahrnehmung“ sanktioniert werden? Dazu kommt, dass zionistische Interessenvertreter zehn Punkte in diese Definition hineingeschmuggelt haben, die in der ursprünglichen Fassung nicht vorkamen. Es handelt sich also nicht um eine wissenschaftliche, sondern eine einseitig politische-ideologische Definition.
Einer der führenden deutschen Antisemitismus-Experten, Peter Ullrich, legte in einem Gutachten die Mängel und Schwächen der IHRA-Definition (mit den Beispielen) bloß und zeigte die Gefahren auf. Ullrich kritisiert, dass die Definition inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert sei. Die Kerndefinition des Antisemitismus sei zudem reduktionistisch, denn sie hebe einige antisemitische Phänomene und Analysen hervor, spare aber andere, wesentliche sehr weitgehend aus.
Ullrich fasst die Risiken und Gefahren der Definition so zusammen: „Die Schwächen der Definition sind das Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahostkonflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren. Dies hat relevante grundrechtliche Implikationen. Die zunehmende Implementierung der Definition als quasi rechtliche Grundlage von Verwaltungshandeln suggeriert Orientierung. Stattdesessen ist sie faktisch ein zur Willkür geradezu einladendes Instrument. Dieses kann genutzt werden, um Grundrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit, in Bezug auf missliebige israelbezogene Positionen zu beschneiden.“
Kritik an der israelischen Politik zu verhindern und zu sanktionieren, ist also ganz eindeutig auch die Absicht der Bundestagsresolution, denn der Schutz Israels ist Staatsräson. Juristen warnen deshalb vor der Verabschiedung dieser Resolution, denn sie würde die Freiheit von Wissenschaft und Kunst einschränken und mit Sicherheit auch der politischen Debattenkultur schweren Schaden zufügen, weil man mit der Resolution eine gewichtige Handhabe gegen das freie Wort haben würde. Wissenschaft und Kunst kann man nur nach ihren eigenen Kriterien beurteilen, sie dürfen nicht nach ideologischen Gesichtspunkten von der staatlichen Obrigkeit kontrolliert und eingeschränkt werden. Das wäre ein Rückfall in unselige feudale Zeiten.
Die Chance, dass die Vernunft siegt und die Bundestagsresolution nicht zustande kommt, ist wohl gering. Die Staatsräson gegenüber Israel hat allemal den Vorrang. Letztlich wird wohl das Verfassungsgericht in Karlsruhe die Freiheit von Wissenschaft, Kunst und freier politischer Rede retten müssen.
25.08.2024