Der israelische Geograph Arnon Sofer, der sich stets für die völlige Abriegelung des Gazastreifens eingesetzt hat und die Palästinenser zutiefst verachtet, schrieb im Jahr 2004 (!) die furchtbaren und inhumanen, aber prophetischen Worte: „Wenn 2,5 Millionen Menschen in einem abgeriegelten Gazastreifen leben, wird das eine menschliche Katastrophe sein. Die Menschen werden zu noch größeren Tieren werden, als sie es heute sind. Der Druck an der Grenze wird furchtbar sein. Es wird ein schrecklicher Krieg werden. Wenn wir also am Leben bleiben wollen, werden wir töten, töten und töten müssen. Den ganzen Tag, jeden Tag…“
Genau diese Situation des Tötens, Tötens und nochmals Tötens ist nach dem 7. Oktober 2023 eingetreten. Israel begeht im Gazastreifen einen Völkermord an den dort eingeschlossenen Palästinensern. Auch wenn die offizielle israelische Rhetorik lautet, man wolle die Hamas vernichten, belegen die Fakten (über 50 000 Tote, etwa 100 000 Verletzte und die Zerstörung des gesamten Gebiets), dass das nur ein Vorwand ist. Das wirkliche Ziel ist die völlige Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet, um es dem israelischen Staat (Groß-Israel) einzugliedern, und wenn das nicht möglich ist, sie sogar zu „eliminieren“.
Das sind keine bösen antisemitischen Unterstellungen, sondern die Schlussfolgerungen aus dem bisherigen militärischen Vorgehen Israels und Äußerungen seiner führenden Politiker und Militärs. So der frühere israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant: „Israel wird eine vollständige Belagerung des Gazastreifens verhängen. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Wasser kein Treibstoff. Alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln entsprechend.“ Der israelische Generalmajor Ghassan Alian: „Ihr wolltet die Hölle, Ihr werdet die Hölle bekommen!“ Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen!“
Und dass nicht nur die Hamas das Ziel der Rachegewalt für den Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 auf Israel ist, sondern dass sie sich gegen alle Palästinenser im Gazastreifen richtet, bestätigte Staatspräsident Jitzchak Herzog mit den Worten: „Es ist ein ganzes Volk verantwortlich. Diese Rhetorik über Zivilisten, die angeblich nicht involviert wären, ist absolut unwahr. Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen.“ Die Liste von Äußerungen brutaler Gewalt gegen die Menschen des Gazastreifens und die Zerstörung des Streifens kann beliebig verlängert werden. Sie haben alle Tod und Zerstörung zum Inhalt.
Zwei deutsche Autoren – die Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten, die bis zu ihrer Emeritierung an der Universität Birzeit im Westjordanland gelehrt hat, und der Völkerrechtler Norman Paech, der an der Universität Hamburg lehrte und auch außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im deutschen Bundestag war, haben nun ein Buch vorgelegt, das die genozidale Katastrophe im Gazastreifen aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet. Das Ergebnis ist eine eindrucksvolle Studie, die in der hysterischen, von der offiziellen Politik und den Mainstreammedien erzeugten Atmosphäre staatstragender Solidarität mit Israel (Staatsräson) und der Darstellung des Anliegens und der Rechte der Palästinenser als „antisemitisch“ eine sehr begrüßenswerte aufklärerische Antwort darstellt.
Helga Baumgarten leitet im ersten Teil des Buches das genozidale Gewaltgeschehen im Gazastreifen aus den Grundvoraussetzungen des zionistischen Siedlerkolonialismus ab. Sie belegt das zunächst mit dem historischen Vorgehen der Zionisten in Palästina von Anfang an: Sie haben niemals die Koexistenz mit den indigenen Palästinensern gesucht, sondern verfolgten immer nur das einzige ZieL: das Land Palästina in Besitz zu nehmen, um den zionistischen Traum eines Groß-Israel zu verwirklichen – aber dies soll ein Staat ohne Palästinenser sein, die es entweder zu vertreiben oder zu „eliminieren“ gilt.
Helga Baumgarten geht ausführlich auf die verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze zur Erforschung des Siedlerkolonialismus ein, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Stellvertretend für die Definition von Siedlerkolonialismus sei deshalb die Begriffsbestimmung des arabischen Politologen Tariq Dama angeführt: „Israelischer Siedlerkolonialismus ist nicht nur eine Fortsetzung des Kolonialismus, sondern eine komplexe Anpassung an das Zeitalter der Dekolonisation im Globalen Süden nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei werden historische Narrative des Überlebens und der Rückkehr so manipuliert, dass auf ihrer Basis aktuelle Kolonisation und Eliminierung gerechtfertigt werden können.“
Der australische Historiker Patrick Wolfe betont in seiner Definition des Siedlerkolonialismus noch stärker den Tatbestand des Völkermordes: „In besonderen Fällen führt die ethnische Säuberung nicht nur zur Vertreibung, sondern zu einem regelrechten Völkermord, wenn sich nämlich die Kolonisierten weigern, ihr Land und ihre Heimat zu verlassen und wenn die Siedlerkolonialisten nicht bereit sind, eine wie auch immer geartete Koexistenz mit den Kolonisierten zu akzeptieren.“
Die Autorin zieht denn auch in ihrer Bilanz die einzig mögliche Schlussfolgerung, die man nach über 100 Jahren zionistischer Unterdrückung der Palästinenser, dem Raub ihres Landes und der seit Jahrzehnten anhaltenden brutalen Besatzung über dieses Volk aus dem von Israel praktizierten Siedlerkolonialismus ziehen kann: Ursache der Gewalt am 7. Oktober war der israelische Siedlerkolonialismus. Sie begründet das so: „Barbarische Gewalt ging und geht zuerst und vor allem von der israelischen Armee und von israelischen Siedlern aus. Diese Gewalt gegen die Kolonisierten ist im Siedlerkolonialismus und seinem zentralen Ziel angelegt: immer mehr Land auf Kosten der einheimischen Bevölkerung aneignen, die vertrieben, ethnisch gesäubert und falls es keine Alternativen gibt, auch eliminiert werden muss.“
Für den Völkerrechtler Norman Paech ist die von der UNO-Generalversammlung am 9.12.1948 beschlossene Völkermordkonvention der Ausgangspunkt. Sie setzt als Kriterium für den Tatbestand des Völkermords nicht allein die Zahl der Toten in einem Krieg an, entscheidend ist vielmehr die Absicht, mit der die Handlungen begangen werden: Tötung von Mitgliedern der bekämpften Gruppe, Verursachung von schweren körperlichen und seelischen Schäden an Mitgliedern der Gruppe sowie die Schaffung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die ihre körperliche Zerstörung herbeiführen können.
Ausschlaggebend für den Vorwurf des Völkermords ist also „der subjektive Tatbestand, dass die genozidale Handlung in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rasssische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.“ Diese Absicht liegt bei Israels Vorgehen im Gazastreifen eindeutig vor. Erinnert sei an die oben zitierten Absichtserklärungen israelischer Politiker und Militärs. Da ist von „Rückgrat brechen“, „totaler Zerstörung“, sogar von „Auslöschen von Familien, Müttern und Kindern“ die Rede, von der „Zerschlagung Gazas und dem Erdboden gleichmachen – ohne Gnade“ und und…
Norman Paech folgert aus dem militärischen Vorgehen der Israelis im Gazastreifen und diesen Äußerungen, dass kein Zweifel an dem subjektiven Tatbestand des Völkermords bestehen könne, weil die eindeutige Absicht bestehe, „die Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören.“ Aus den Äußerungen israelischer Politiker und Militärs schließt Paech auch, dass es der israelischen Führung nicht nur um die Vernichtung der Hamas geht, sondern um einen „erweiterten Plan“ zum Völkermord – eben an allen dort lebenden Palästinensern.
Dass Israel diese Absicht verfolgt, machen die Verbrechen deutlich, die die israelische Armee täglich im Gazastreifen begeht. Paech zählt auf: die täglich steigende Zahl der Toten und Verletzten, die gnadenlose Verwüstung von Häusern, Ortschaften, Flüchtlingslagern und Städten, die systematischen Vertreibungen, die Unterversorgung und Hungerstrategie; die Bombardierung und der Beschuss der Zivilbevölkerung, die als ein unterschiedslos angreifbares Ziel angesehen wird; die Evakuierung und Vertreibung der Menschen. Paech zitiert den israelischen Holocaust-Historiker Raf Segal, der in Israels Vorgehen „einen Lehrbuchfall des Völkermordes“ sieht. Es sei hinzugefügt: Fünf weitere israelische Holocaust-Forscher haben sich der Beurteilung Segals angeschlossen: Omer Bartov, Amos Goldberg, Ahmuel Lederman, Lee Mordechai und Barry Trachtenberg. Das sollte gerade in Deutschland angesichts der blinden Unterstützung Israels bei seinem Genozid zu denken geben.
Mag die Beurteilung, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht, auch noch so klar und eindeutig sein, Norman Paech weiß natürlich um die schwache Position des Völkerrechts in der internationalen Politik. Denn nicht das Recht leitet die Politik der Staaten, besonders der westlichen Staaten (und schon gar nicht im Fall Israel/ Palästina), sondern ihre Interessen. Das Recht bleibt dabei ohnmächtig zurück. Ja, um das Völkerrecht zu umgehen, haben die USA das Konzept der „regelbasierten Ordnung“ erfunden – ein Ordnungssystem, in dem allein ihre Machtinteressen den Ton angeben. Völkerrechtsbruch ist deshalb eher die Regel als die Ausnahme, sodass der Begriff des „Völkerrechtsnihilismus“ mehr als angebracht erscheint.
Da aber das Rechtsverständnis in Bezug auf das Nahost-Problem gerade durch den Westen so diskreditiert ist, dort Gesetzlosigkeit und die Gewalt des Stärkeren dominieren, hat ein Frieden dort, der sich auf die UNO-Charta berufen kann, keine Chance. Eine Lösung des verfahrenen Konflikts kann es deshalb zurzeit nicht geben. Das Recht müsste die Oberhand gewinnen, aber dazu ist vor allem Israel nicht bereit. Dennoch, trotz aller Schwächen ist das Völkerrecht nicht überflüssig, was gäbe es sonst für Kriterien und Maßstäbe, um sagen zu können, was gerecht und was verbrecherisch ist – wie jetzt bei dem Genozid in Gaza. Moralisches Chaos wäre die Folge – eben „Völkerrechtsnihilismus“. Oder anders gesagt: Das Völkerrecht ist zur Orientierung in der politischen Anarchie der Gegenwart unerlässlich.
So können die beiden Autoren keinen positiven Blick in die Zukunft anbieten. Sie wissen natürlich, was die Bedingungen eines Friedens im Nahen Osten sind: „Frieden, und das hat sich bis heute nicht geändert, ist nur nach einer De-Kolonisierung Israels, der restlosen Aufhebung der Besatzung und der Herstellung der vollen Gleichberechtigung aller Menschen ‚from the river tot he sea‘ möglich.“ Aber solange die USA rückhaltlos hinter Israel stehen, hat der Frieden in dieser Region keine Chance. Diese traurige Bilanz schmälert aber in keiner Weise den großen Wert der Ausführungen der beiden Autoren. Denn sie bieten eine klare wissenschaftliche Analyse des Genozid-Geschehens im Gazastreifen.
Das allein ist schon ein großes Verdienst, da in Deutschland inzwischen schon das Nennen von Fakten im Zusammenhang mit Israels Politik den Antisemitismus-Vorwurf auf den Plan ruft. Ihr Buch ist so gesehen auch eine scharfe Kritik an der deutschen Solidarität mit Israel, denn das Land der Täter scheut nicht davor zurück, den Realitäten in Israel/ Palästina eine ganz andere Deutung zu geben (Stichworte: „einzige Demokratie im Nahen Osten, Treue zum Völkerrecht, Selbstverteidigung“) und so durch die Unterstützung der Zionisten zum Mittäter an dem Völkermord wird.
Aber die Fakten haben ihre eigene Macht, und sie ohne ideologische Scheu klar zu benennen und einer Analyse zu unterziehen, ist in einer Zeit, in der Desinformationen, Fakemeldungen und – in diesem Fall – die israelische Propaganda (Hasbara) weitgehend den Diskurs bestimmen, ein großes Verdienst. Wer sich ein klares Bild von dem gegenwärtigen Geschehen im Gazastreifen, seinen Ursachen und mögliche Folgen machen will, kommt um dieses Buch nicht herum.
Helga Baumgarten/ Norman Paech: Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse, Promedia Verlag Wien 2025, ISBN 978-3-85371-542-0, 22 Euro