Eine vorbildliche Demokratie!

Eine Nachlese zu den Wahlen in der „einzigen Demokratie“ des Nahen Ostens

Gab es da mal eine Kritik am israelischen Staat und seiner Politik gegenüber den Palästinensern? Die Mainstream-Medien sind sich nach den Wahlen in Israel   weitgehend einig: Auch wenn der Likud-Spitzenkandidat Benjamin Netanjahu wegen seiner skrupellosen Machtpolitik wenig Sympathien genießt und das Patt-Ergebnis unbefriedigend ist und eine unsichere Zukunft verheißt, gibt es viel Lob für die israelische Demokratie. Sie war der eindeutige Wahlsieger!

So schreibt etwa Richard Chaim Schneider in der ZEIT: „Insofern dürfte die Wahl trotz des vorläufigen Patts zwischen den beiden großen Parteien und trotz aller Ungewissheiten zum jetzigen Zeitpunkt zwei Dinge gezeigt haben: Das Ende der Ära Netanjahu ist nah. Und: Israel hat sich im letzten Moment von einer rassistischen, antiliberalen, autokratischen Politik verabschiedet. Das allein ist ein gutes Signal und zeigt, dass die israelische Demokratie lebendiger ist, als man dies zuletzt vermuten konnte.“

Abschied von einer rassistischen, antiliberalen, autokratischen Politik? Lebendige Demokratie? Da reibt der politische Beobachter sich verwundert die Augen. Denn es blieb ja eigentlich alles beim Alten nach dieser Wahl. Neue Perspektiven wurden nicht sichtbar. Einen Lichtblick gab es allerdings: das gute Ergebnis der vereinten arabischen Liste. Aber sie ist im zionistischen Staat zur politischen Ohnmacht verurteilt. Irgendwelche Möglichkeiten zur Mitbestimmung oder Mitgestaltung hat sie nicht. Im neuen Nationalstaatsgesetz heißt es ja ganz klar und eindeutig: Die Selbstbestimmung im Staat Israel haben nur die Juden. Dennoch kann das Wahlergebnis eine kuriose Folge haben. Kommt es zur großen Koalition zwischen dem Likud und der Blau-Weiß-Partei mit Hilfe von Avigdor Liebermans Partei „Unser israelisches Haus“ dann gäbe es in der Knesset einen arabischen Oppositionsführer, da die Liste drittstärkste Kraft wurde.

Was aber so täuschend echt nach wirklicher Demokratie aussieht, ist nur eine schöne Fassade von Demokratie: 4,5 Millionen Menschen im zionistischen Herrschaftsbereich – im Westjordanland und im Gazastreifen – waren (weil ohne bürgerliche und politische Rechte) von den Wahlen ausgeschlossen. Für sie sieht Demokratie so aus, dass die Scharfschützen von Polizei und Armee sofort gnadenlos schießen, wenn diese Menschen demonstrierend ihr in der UNO-Charta verbürgtes Recht auf Selbstbestimmung und menschliche Würde einfordern.

Wenn dann der amtierende Regierungschef Netanjahu Wahlkampf mit rassistischen Ausfällen gegen die palästinensische Minderheit im Staat (immerhin 20 Prozent der Bevölkerung) und als Clou weiteren völkerrechtswidrigen Landraub an diesem Volk ankündigt, dann darf man doch fragen, was das für eine Demokratie ist. Zumal der Gegenkandidat der Opposition, Ex-Armee-Chef Benny Gantz, keineswegs dagegenhält, sondern sogar noch eins draufsetzt, indem er verbreitet, dass er die Idee der Annexion des Jordan-Tales schon vor Jahren vertreten habe und Netanjahu sie schlicht bei ihm abgekupfert habe. Obendrein brüstete sich der Ex-General noch im Wahlkampf damit, wieviel „Terroristen“ die Armee unter seiner Führung in den Kriegen mit dem Gazastreifen umgebracht habe – Tausende Zivilisten eben, darunter zahllose Frauen, Kinder und ältere Menschen.

Aber man muss einmal ins Grundsätzliche gehen und anführen, warum Israel keine Demokratie im westlichen Sinne ist. Die Grundprinzipien eines liberalen Rechtsstaates sind schon in der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948 enthalten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es da. Diese Formulierung enthält drei fundamentale Rechtsprinzipien:

  • das Prinzip der Liberalität. Dieses Prinzip begründet die Freiheit der Bürger/innen, zu tun, was immer sie wollen, solange sie nicht gegen die geschützten Interessen anderer verstoßen. Im deutschen Grundgesetz wird dies als „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ formuliert.
  • das Prinzip der Egalität. Dieses Prinzip besagt, dass alle Bürger/innen vor dem Gesetz gleich sind und nicht wegen ihrer Religion, Weltanschauung, Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden dürfen.
  • das Prinzip der Individualität, das besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist (Grundgesetz Artikel 1), d. h. der Einzelne bestimmt über seine Würde selbst und nicht der Staat noch eine wie auch immer geartete Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft. Der Staat hat diese unantastbare Menschenwürde zu schützen. 

Man vergleiche diese Prinzipien mit der Realität in den von Israel besetzten Gebieten. Oder auch mit der Situation der Palästinenser in Israel selbst mit ihren vielfältigen Formen der Diskriminierung. Lebendige Demokratie? Diese Zusammenhänge und die Tatsache, dass selbst Menschenrechtsbeobachter der UNO (John Dugard und Richard Falk) in ihren Berichten Israel längst für einen Apartheidstaat halten, finden in den Mainstream-Medien so gut wie keine Erwähnung oder sie laufen unter der denunziatorischen Abwertung „Antisemitismus“.

Besagter Richard Chaim Schneider hatte in früheren Tagen auch schon klarere Einsichten. In seinem 1998 erschienen Buch „Israel am Wendepunkt. Von der Demokratie zum Fundamentalismus?“ hatte er noch geschrieben: „Die Ungerechtigkeiten gegenüber der palästinensischen Minderheit im eigenen Land sind so zahlreich, dass man sie kaum aufzählen kann.“

Und: „Die jüdischen Israelis vergessen ihre Nachbarn einfach – als wäre sie aus ihrem Bewusstsein ausgeblendet. Sie ignorieren einfach unsere Städte und Dörfer. Sie planen Straßen, ohne sich im geringsten darüber Gedanken zu machen, dass es im Bereich der geplanten Trasse arabische Siedlungen gibt. Wir sind einfach ein Hindernis, das man überwinden muss. Und so führen solche neuen Straßen einfach über unser Ackerland, womit wieder einige arabische Bauern um ihre Arbeit und Besitz gebracht werden.“ Und: „Der arabische Bevölkerungsteil wird aus so gut wie allen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeklammert.“ Und: „Die wirtschaftliche Aktivität der Palästinenser innerhalb Israels ist von den Zionisten längst zerstört worden.“

Und zur israelischen Demokratie meint Richard Chaim Schneider in einem Ausblick auf die Zukunft am Schluss seines Buches: „Die Demokratie in Israel ist in Gefahr, und es scheint, als ob der Nahost-Konflikt die Tendenzen zu allen erdenklichen Spielarten des Fundamentalismus nur verstärkt. Israel kann nur eine offene Gesellschaft werden, wenn es Frieden gibt. Dieser Frieden aber bedroht viele Israelis in ihrer Identität. Es muss die Frage gestellt werden dürfen, ob der Krieg nicht zu einer Raison d’être geworden ist, mittels derer die israelischen Juden ihre Form des Judentums behaupten und den ‚jüdischen‘ Charakter Israels aufrechterhalten können?“

Hat sich daran seit 1998 (dem Erscheinungstermin von Schneiders Buch) irgendetwas geändert?