Wenn die Darstellung des Zionismus als Hintergrund für Israels Politik zum Problem wird
Muriel Asseburgs und Jan Busses Buch über den Nahostkonflikt weist beträchtliche Lücken auf
Wenn deutsche Wissenschaftler eine Geschichte des Nahostkonflikts schreiben, dann besteht immer die Gefahr, dass die Darstellung zu sehr der israelischen Sichtweise folgt und der Blick auf die arabische Seite zu kurz kommt. Dieser Gefahr sind die beiden Verfasser des Buches Der Nahostkonflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven Muriel Asseburg (Stiftung Wissenschaft und Politik) und Jan Busse (Universität der Bundeswehr München) erlegen, auch wenn man ihr Bemühen um Objektivität durchaus spürt. Ist es die Angst vor dem Antisemitismus-Vorwurf, die sie doch immer wieder im Sinne Israels argumentieren lässt?
Da ist zum Beispiel durchgehend von den „zwei Seiten“ oder „zwei Parteien“ des Konflikts die Rede. Die riesige Asymmetrie zwischen Kolonisator und Kolonisierten, Besatzer und Besetzten, Unterdrücker und Unterdrückten wird zu wenig herausgearbeitet, erst auf der vorletzten Seite des Buches kommen die Worte „Machtungleichgewicht“ bzw. israelische „Dominanz“ vor, im selben Zusammenhang ist dann aber doch wieder von den „zwei Seiten“ die Rede, deren „Entfremdung“ inzwischen so groß sei, dass eine Annäherung in Richtung Frieden fast ausgeschlossen sei.
Nun sind es aber nicht nur „Entfremdung“ oder „Misstrauen“, die einen gerechte Ausgleich zwischen Israel und den Palästinensern verhindern, sondern ganz grundlegend auch die Vorgaben der zionistischen Ideologie, an die Israel sich in seiner Politik gegenüber den Palästinensern getreulich hält. Zwar gehen die Autoren kurz auf den Zionismus ein, arbeiten aber nicht das Wesen dieser Ideologie heraus. Die israelische Historikerin Tamar Amar-Dahl nennt die Dinge beim Namen und sieht den Kern dieser Ideologie in der Maxime von der obersten Priorität militärischer Überlegenheit, was bedeutet, dass die Sicherheit des Staates und seine Nationalstaatlichkeit nur durch Gewalt (und das heißt: permanenten Krieg, der durchaus positiv konnotiert wird) erhalten werden kann.
Vor diesem Hintergrund – so Tamar-Dahl – erscheint der Konflikt mit den Arabern und den Palästinensern im Besonderen als eine gegebene unveränderliche Tatsache, weil die Feindschaft der „neuen Gojim“ gegenüber den „Juden“ als jenseits historischer Entwicklungen verstanden wird. Die arabische Ablehnung der Existenz Israels wird nicht als Reaktion der Araber auf die Politik der Zionisten verstanden, sondern wird in eine Reihe mit den jüdischen Gewalterfahrungen in Europa gestellt.
Tamar Amar Dahl schreibt: „Der politischen Ordnung des zionistischen Israel liegen im Endeffekt zwei Gründungsmythen zu Grunde: Der Mythos von ‚Eretz Israel‘ [Groß-Israel] als Land des jüdischen Volkes und der Sicherheitsmythos. Diese beiden bilden den Kern für die Palästina-Frage, damit die Kernfrage des historisch gewachsenen Nahost-Konflikts. Beide Mythen stehen einer politischen Regelung des Konflikts mit den ‚Arabern von Eretz Israel‘ im Wege. Denn Israels Beharren auf dem Mythos, ‚Eretz Israel‘ sei das Land des jüdischen Volkes, bedeutet gleichzeitig, dass es das Selbstbestimmungsrecht des auf eben diesem Territorium lebenden Palästinenser nicht anerkennen kann. Deshalb kann es auch keinen palästinensischen Staat in Teilen des Landes entstehen lassen. (…) Da das zionistische Israel weder das Land teilen kann/will noch im binationalen Staat eine wirkliche Option sieht, bleibt der Status quo der ‚Araber von Eretz Israel‘ als ‚outgroup‘, letztlich als verdrängte Feinde des zionistischen Israel, bestehen.“
Weil eine solche Sicht auf den Zionismus fehlt, geraten Asseburg und Busse bei der Darstellung der Geschichte Israels immer wieder ins ideologische Fahrwasser der offiziellen israelischen Darstellung, die dann zumeist mehr mit der Propaganda dieses Staates als mit den realen historischen Fakten zu tun hat. So leugnen die Autoren zwar nicht die Nakba, sehen sie aber als Begleiterscheinung oder Folgeerscheinung des „Unabhängigkeitskrieges“ von 1948 an. Eine These, die die „neuen“ israelischen Historiker längst widerlegt haben – besonders Ilan Pappe mit seinem Buch „Die ethnische Säuberung Palästinas“, das die Autoren in ihrem Literaturverzeichnis auch angeben, aber offensichtlich inhaltlich nicht berücksichtigt haben.
Pappe hat belegt, dass die zionistischen Truppen und Milizen sehr bald nach dem UNO-Teilungsbeschluss im November 1947 gegen die Palästinenser vorrückten und bis zum Gründungstag des israelischen Staates am 15. Mai 1948 schon weite palästinensische Gebiete erobert und 300 000 Palästinenser vertrieben hatten. Erst dann begann der israelische arabische Krieg. Da erhebt sich die Frage, warum Historiker solche Fakten nicht zur Kenntnis nehmen.
Auch die Vorgeschichte zum 1948er Krieg ist nicht vollständig geschildert. Da heißt es: „Jordanien eroberte das Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalems, das es 1950 annektierte.“ Da fehlt die wichtige Information, dass die Zionisten mit dem jordanischen König Abdallah ein Geheimabkommen geschlossen hatten, das ihm das Westjordanland zusicherte, wenn er mit seinen Truppen nicht in Israels Krieg mit den Arabern eingreifen würde. Vor allem die „Arabische Legion“ (die stärkste arabische Armee) fürchteten die Zionisten, aber sie hielt sich auf Grund des Abkommens aus dem Krieg heraus und griff nur in die Kämpfe um Jerusalem ein.
So fehlen auch bei vielen anderen Ereignissen die Vorgeschichte oder der historische Zusammenhang, ohne die das beschriebene Geschehen gar nicht verständlich wird. So erwähnen sie das Massaker von Hebron 1929, bei dem Araber viele Juden getötet haben, geben aber nicht den Anlass zu diesem Mord an, wobei den Anlass zu erwähnen natürlich nicht die Rechtfertigung eines solchen Verbrechens bedeutet. Der Anlass war eine jüdische Provokation sowohl der britischen Mandatsmacht als auch der Araber gewesen. Denn fromme Juden hatten eine Abtrennung von Männern und Frauen an der Klagemauer vorgenommen, woraufhin die Muslime befürchteten, dass die Juden über die Mauer und deren Umfeld, die auch für sie heilig sind, die Kontrolle übernehmen wollten – für sie eine ungeheure Provokation.
Selbst der Jude Sigmund Freud, der von zionistischer Seite aufgefordert wurde, seiner Empörung über das Massaker in Hebron öffentlich Ausdruck zu geben, lehnte das ab und begründete dies mit den Gefahren, die religiöser Fanatismus und aggressiver Nationalismus für die Juden bedeuteten. Er könne sich nicht vorstellen, dass Palästina ein jüdischer Staat werden könne, noch dass die christliche und islamische Welt bereit sein könnten zu dulden, dass ihre heiligen Stätten unter jüdische Kontrolle kommen würden. Er gab seiner Sorge Ausdruck, dass der unrealistische Fanatismus des jüdischen Volkes Schuld am Erwachen des arabischen Misstrauens sei. Er könne keinerlei Sympathie für die fehlgeleitete jüdische Frömmigkeit empfinden, die ein Stück von Herodes Mauer [der Klagemauer] in eine nationale Reliquie verwandeln wolle und damit die Gefühle der Einheimischen [der Araber] provoziere.
Es lassen sich andere Beispiele nennen, in denen die Herstellung des historischen Zusammenhangs fehlt. Die Autoren gehen zum Beispiel immer wieder auf die Hisbollah ein und schildern, eine wie große Bedrohung sie im Bündnis mit Syrien und dem Iran für Israel sei. Den Grund für die Entstehung der Hisbollah nennen sie aber nicht: die brutale Besatzung, die Israel nach seinem Überfall auf den Libanon 1982 im Süden dieses Landes ausübte. Die Hisbollah ist heute die einzige militärische Kraft, die den Libanon wirklich schützen kann und vor der Israel deshalb großen Respekt hat.
Auch die Ereignisse um die Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen sind äußerst lückenhaft dargestellt. Fakt war, dass die Hamas 2006 die absolut freien Wahlen in den besetzten palästinensischen Gebieten gewonnen hat und dass sie nach einer Vermittlung der Saudis bereit war, mit der im Westjordanland regierenden Fatah eine Einheitsregierung zu bilden. Der Westen lehnte dies ab, weil für ihn die Hamas eine „terroristische“ Organisation ist. Israel ließ sogar die frei gewählten Hamas-Abgeordneten verhaften. Die Fatah hatte inzwischen unter der Führung eines amerikanischen Generals und des Palästinensers Mohammed Dahlan eine Truppe aufgestellt, die mit einem Putsch die Hamas im Gazastreifen stürzen sollte. Das misslang aber, weil die Kämpfer der Hamas sich militärisch überlegen erwiesen. Damit hatte die Fatah die Hamas durch ihre Niederlage selbst an die Macht gebracht, die sie bis heute ausübt. Die fatale Feindschaft zwischen den beiden palästinensischen Organisationen ist weitgehend auf diesen Bürgerkrieg zurückzuführen.
Die Autoren gehen zwar mehrmals auf die Völkerrechtswidrigkeit der israelischen Siedlungspolitik ein, erwähnen auch das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes von 2004, das den Mauerbau für völkerrechtswidrig erklärt und sehen auch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Palästinenser in ihren Enklaven kritisch, verlieren aber so gut wie kein Wort über die Brutalität der israelischen Besatzung mit ihren täglichen Verstößen gegen die Menschenrechte: permanente Übergriffe auf die Bevölkerung, Razzien, Verhaftungen, tausende von politischen Gefangenen, Administrativhaft, Folter sowie das Einkerkern sogar von Kindern. Bei den beiden Autoren kommen solche Fakten nicht vor.
Auch die Tatsache, die von israelischen Militärs sogar eingestanden wird, dass Israel seine von seiner Rüstungsindustrie hergestellten Waffen in den Auseinandersetzungen mit den Palästinensern testet, die besetzten Gebiete also als „Labor“ für Israels Rüstungsindustrie dienen, findet keine Erwähnung. Ein Vorgang, den man ja nur mit der völligen Verachtung der Palästinenser erklären kann, die auch entsprechend dämonisiert werden: „Wilde Tiere auf zwei Beinen“ (Menachem Begin) oder: „Die Palästinenser sollen wie Heuschrecken zermalmt werden.“ (Itzhak Shamir) – beide israelische Ministerpräsidenten. Die Reihe solcher Zitate kann beIiebig fortgesetzt werden, was Asseburg und Busse aber nicht davon abhält zu behaupten, dass es in Israel keinen Rassismus gebe. Der israelische Journalist Gideon Levy von der Tageszeitung Haaretz hat schon vor Jahren geschrieben: „Wir haben eine Nation, in der Rassismus der wahre gemeinsame Nenner ist.“
Man kann viele weitere Punkte anführen, bei denen die Autoren mit Weglassungen oder zu kurz gehaltenen Darstellungen operieren. So erwähnen sie zwar die Auseinandersetzungen ab März 2018 an der Grenze zum Gazastreifen, erwähnen aber auch hier nicht die Brutalität des israelischen Vorgehens: dass Scharfschützen der Armee – im wörtlichen Sinne – ganz gezielt über 200 friedliche Demonstranten getötet und weit über 10 000 zu Krüppeln geschossen haben. Immerhin gestehen die Autoren zu, dass es „Schnittmengen zwischen der völkerrechtlichen Definition von Apartheid und der Situation in Israel und den palästinensischen Gebieten“ gibt, eine Feststellung, die aber vielen ihrer sonstigen Ausführungen widerspricht.
Die israelisch-zionistische Perspektive, die die Autoren weitgehend einnehmen, spiegelt sich vor allem darin wider, dass sie immer nur von der „Bedrohung“ Israels sprechen – etwa durch Syrien im Bündnis mit dem Iran und der Hisbollah. Dass die Nachbarn Israels sich aber gerade durch die als „Selbstverteidigung“ ausgegebene rücksichtslose Militärstrategie dieses Staates, die Ariel Sharon mit dem kurzen Satz ausdrückte „Sie müssen Angst vor uns haben“, von Israel bedroht fühlen, bleibt unerwähnt. Asseburgs und Busses Buch zeichnet sich im Gegensatz zu vielen anderen zu diesem Thema erschienen Büchern (besonders von antideutschen Autoren) durch eine Annäherung an die Realität im Nahen Osten aus, die sie aber nicht erreichen, weil da der einseitige Blick auf Israel im Wege ist.
Asseburg, Muriel/ Busse, Jan: Der Nahost-Konflikt. Geschichte, Positionen, Perspektiven, Reihe Wissen C.H.Beck-Verlag München, aktualisierte Neuauflage 2020, ISBN 978 3 406 743 160, 9,95 Euro
28.6.2020