Definiert Israels Regierung, was heute Antisemitismus ist?

Ein israelischer Historiker kritisiert die zu große deutsche Identifikation mit der zionistischen Ideologie

Antisemitismus ist in Deutschland wieder ein Thema geworden. Über seine angebliche Zunahme berichten deutsche Medien fast jeden Tag. Nun soll diese Form des Rassismus hier auch gar nicht verharmlost werden, die es zweifellos in einem Teil der Bevölkerung gibt. Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel daran, dass Antisemitismus in hysterischer Weise hochgepuscht wird, denn alle Umfragen belegen, dass die Vorurteile gegenüber Muslimen viel größer sind als gegenüber Juden. Islamophobie wird aber ganz offensichtlich klein gehalten, über die Gründe darf man spekulieren.

 

Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz wiederholt seit Jahren: „Ich sehe überhaupt keine neue Qualität des Antisemitismus. Ich würde auch gern die Wortwahl ‚antisemitische Ausschreitungen‘ hinterfragen. Ich beobachte die Szene seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren wird mit dem Thema Politik und Stimmung gemacht.“ Benz sieht die größere Gefahr heute viel mehr in der Feindschaft gegenüber Muslimen. Die Islamophobie arbeite mit ganz ähnlichen Argumentationsmustern und Stereotypen wie der Antisemitismus. Gemeinsam sei diesen Vorurteilen die Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen der Ausgrenzung: „Das Feindbild der Juden wird heute durch das Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder geht es um die Ausgrenzung einer Minderheit. Es ist höchste Zeit, die Diskriminierungsmechanismen zu verstehen und schließlich zu verhindern.“

 

Nun wird in deutschen Mainstream-Medien der Antisemitismus-Begriff so gut wie nie hinterfragt. Ob es um eine Attacke auf einen Kippa-Träger, Schmierereien an Synagogenwänden oder Vandalismus auf jüdischen Friedhöfen, BDS oder Kritik an Israels menschen- und völkerrechtswidriger Politik geht – alles wird über einen Kamm geschert und fällt in den meisten Medien unter den pauschalen Begriff Antisemitismus. Aber Antisemitismus ist eine Ideologie und man kann sie auf ihre Ursachen und Auswirkungen hin untersuchen und kritisch hinterfragen. Differenzierung tut da not!

 

Das leistet in vorbildlicher Weise ein israelischer Historiker. Sein Name: Daniel Blatman. Er lehrt an der Hebräischen Universität in Jerusalem (sein Fachgebiet ist der Holocaust) und er ist zugleich der Chefhistoriker des Warschauer Ghetto-Museums. Ein Mann also, den man wahrhaftig nicht unter Antisemitismus-Verdacht stellen kann. Er spricht in einem jetzt erschienenen Aufsatz von der „Verzerrung des Antisemitismus“ besonders in Deutschland und einer „Hexenjagd“ auf alle, die den gängigen Antisemitismus-Begriff nicht akzeptieren und womöglich noch Israels Politik kritisieren. Als Beispiel nennt er den erzwungenen Abgang des Direktors des Jüdischen Museums in Berlin Peter Schäfer, eines international hoch geachteten Judaisten. Sein Konzept passte bestimmten jüdischen Kreisen in Israel und Deutschland nicht, also musste er gehen. „Hexenjagd“ eben.

 

Blatman nennt die Veränderung („Verzerrung“) des Antisemitismusbegriffs eine „Revolution“. Warum? Er setzt den traditionellen, vertrauten Antisemitismus, der durch Feindseligkeit, Hass und Dämonisierung gegenüber Juden und Judentum gekennzeichnet war und ist (es gibt ihn ja noch) und sich in Mythen und Stereotypen ausdrückt von dem neuen funktionalen Antisemitismus ab, der auf dem Prinzip beruht, dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch definieren wollen, als solcher auch definiert wird.“

 

Was Blatman dann definitorisch ausführt, ist für das deutsches Mainstream-Verständnis ein solcher Tabubruch, dass man es wörtlich anführen muss: „Mit anderen Worten, es handelt sich [bei dem funktionalen Antisemitismus] nicht mehr um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet – sondern um einen, der zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von der israelischen Regierung und von Juden und Nicht-Juden, die ihn unterstützen, in Deutschland und anderen Ländern aufgestellt werden.“

 

Und weiter: „Was hier geschieht ist nicht weniger als eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht mehr, wer ein Jude ist, der aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philosemit ist, und die Deutschen nehmen ihre Meinung an.“

 

Das ist harter Tobak. Denn diese Definition bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass die Führung in Israel festlegt, was Antisemitismus ist und was nicht und dass man im Ausland – besonders in Deutschland – diesen Vorgaben brav und gehorsam folgt. Die tägliche Erfahrung lehrt, dass dies keine Verschwörungstheorie ist. Die treue und blinde Anhängerschaft der israelischen ideologischen Vorgaben reicht von kleinen antideutschen Zirkeln und Postillen, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft über die Springer-Presse bis in den Bundestag und das Bundeskanzleramt.

 

Wenn man die Antisemitismus-Vorwurfs-Ideologie kritisch hinterfragt, dann muss man eine Antwort auf die Frage finden: cui bono? Was soll diese Ideologie leisten, wem soll sie letztlich nutzen und welches Ziel verfolgt sie? Der israelische Psychologe Benjamin Heit-Hallahmi hat schon von fast dreißig Jahren die Antwort auf diese Fragen gegeben: Der Antisemitismus-Vorwurf wird in erster Linie benutzt, um jede Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Palästinenser abzublocken und zum Schweigen zu bringen.

 

Beit-Hallahmi schreibt: „Das Ziel dieser Verteidigung ist, den Zionismus mit einer Mauer der Immunität zu umgeben, so dass keine rationale Diskussion seiner Ziele und Implikationen mehr möglich ist. So eine Immunität braucht der Zionismus in der Tat, weil er durch normale politische Standards nicht verteidigt werden kann.“ Da wird dann eben Antisemitismus und Antizionismus gleichgesetzt, um zum gewünschten Ziel des Abwürgens jedes Diskurses über die israelische Politik zu kommen. Der von Israel definierte und vertretene Antisemitismus ist also auch eine Verteidigungs- und Rechtfertigungsstrategie des Zionismus und seiner äußerst unmoralischen, weil von Gewalt diktierten Politik. Ein anderes Mittel zur Rechtfertigung des Zionismus ist die Dämonisierung der Araber bzw. Palästinenser als „Antisemiten“ oder sogar als „Nazis“. Den Palästinensern wird dann unterstellt, dass sie den Genozid der Nazis an den Juden fortsetzen wollten – Ergebnis einer Projektion, also einer seelischen Übertragung eigener feindlicher Regungen und Aggressionen auf den „Anderen“, den „Feind“.

Sehr aufschlussreich ist die Formulierung Blatmans, dass bestimmte Juden definierten, wer Antisemit oder ein Philosemit sei und dass die Deutschen diese Meinung annähmen. Hat nicht kürzlich ein protestantischer Bischof von „Überidentifikation“ der Deutschen mit Israel gesprochen und für diesen Tabubruch verbale Prügel von allen Seiten bekommen? Solche Reaktionen sind immer verräterisch, weil sie psychologisch gesehen aussagen, dass da einer eine sehr unbequeme Wahrheit ausgesprochen hat, die man schnell wieder im Orkus der Verdrängung verschwinden lassen muss. Aber die empörten Reaktionen bestätigen genau das, was der Bischof behauptet hat, dass es eine Überidentifikation mit Israel gibt.

Dabei hatte der Bischof mit Überidentifikation nur einen Begriff angeführt, den der Israeli Moshe Zuckermann seit Jahren benutzt. Er schreibt in seinem Buch Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit: „Nachvollziehbare deutsche Schuldgefühle haben die öffentliche Sphäre Deutschlands über Jahrzehnte in entscheidendem Maß geprägt, zuweilen merkwürdige (Re-)Aktionen zeitigend, nicht zuletzt im Bereich der staatsoffiziellen Politik. Wenn das Diktum ‚Auschwitz werden uns die Deutschen niemals verzeihen!‘ stimmt, dann mag sich in der performativen Überidentifizierung [Hervorhebung durch A.Str.]mit Juden eine Art Schuldabtragung, mithin eine selbsterteilte Vergebung, manifestieren. Wenn man selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘, sondern Opfer, hat also etwas nagend Quälendes an sich ‚wiedergutgemacht‘.“ Bisweilen spricht Zuckermann in noch schärferer Form sogar von einer Symbiose der Deutschen mit Israel.

Blatmans Satz, dass bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philosemit ist und dass die Deutschen diese Meinung annähmen, bedeutet ja auch die völlige Identifizierung mit dem von der israelischen Führung ausgegeben Antisemitismus-Begriff. Der deutsche Mehrheitsdiskurs debattiert also gar nicht, was Antisemitismus wirklich ist und wann er wirklich vorliegt, sondern man übernimmt kritiklos die israelische Definition und identifiziert sich aus Schuldgefühlen heraus mit einer Ideologie, die die Zionisten – wie Blatman und Beit-Hallahmi bestätigen – ersonnen haben, um ihren mit äußerster Gewalt geschaffenen Staat zu rechtfertigen, zu verteidigen und zu schützen. Moshe Zuckermann weist immer wieder auch darauf hin, dass Israel für diesen Zweck nicht davor zurückscheut, den Holocaust „in perfider Weise“ zu instrumentalisieren.

Überidentifikation mit etwas oder jemandem anderen ist aber psychologisch gesehen immer ein infantiles bzw. neurotisches Phänomen. Es zeigt an, dass ein Individuum oder ein Kollektiv noch nicht zur eigenen vollen Identität gefunden hat, weil es sich in Abhängigkeit von jemandem anderen befindet. Eine wirklich erfolgreiche Aufarbeitung der monströsen deutschen Vergangenheit kann also nur im Abbau, der Loslösung beziehungsweise der Emanzipation von der Überidentifikation oder der Symbiose mit Israel liegen – und damit auch von dem von dort vorgeschriebenen Antisemitismus-Begriff. Das würde die Antwort auf die Frage bedeuten, was ist wirklich Antisemitismus und wann und wo liegt er wirklich vor? Und wann und wo wird nur der von der israelischen Regierung für ihre Zwecke instrumentalisierte funktionale Antisemitismus gehorsam nachgebetet.

Eine Option für die deutsche Politik wäre: Israel öffentlich und unmissverständlich daran zu erinnern, auf welchen Säulen der deutsche Rechtsstaat (zumindest idealiter) beruht: auf dem liberalen deutschen Grundgesetz, den Menschenrechten und dem Völkerrecht. Das heißt: dass die Beziehungen ohne Wenn und Aber auf dieser Basis stattfinden müssen. Man könnte Israel dann die volle Unterstützung zusichern, ein selbstbestimmter Staat zu sein und zu bleiben, aber es muss ein Rechtsstaat Israel sein. Deutschland könnte auf diese Weise sein neurotisch-pathologisches Verhältnis zu diesem Staat bereinigend aufarbeiten, und damit gleichzeitig seine verbrecherische Vergangenheit in moralisch einwandfreier Weise bewältigen.

Blatman schreibt in seinem Aufsatz: „Es gibt eine bittere historische Ironie, jeden in Deutschland, der die gegenwärtige Politik Israels kritisiert, unterschiedslos als antisemitisch zu bezeichnen. So dient Deutschland dem brutalen und rassistischem Konzept des Zionismus im heutigen Israel.“ Deutschland sei, schreibt er, zu einem führenden Mitglied der Koalition der „Verzerrer des Antisemitismus“ geworden – Stichworte: funktionaler Antisemitismus, Hexenjagd, totale Identifizierung mit Israel. Der Deutsche Bundestag mache sich zum willigen Helfer („Fußmatte“) für Israel, seine Interessen und seinen Antisemitismus-Begriff. In Israel habe man einmal vom „neuen, anderen Deutschland“ gesprochen, das die Versöhnung mit dem Täterstaat möglich machte. Blatman hat große Zweifel, ob es dieses „andere Deutschland“ noch gibt, wenn es heute um Antisemitismus geht.

9.08.2019