In Deutschland und auch anderswo im Westen sind sich die Politik und die meisten Medien einig: Die Hamas ist eine Terrorgruppe und ihr Angriff auf Israel war eine reine Terroraktion. Definiert man Terror als Gewalt von im Untergrund agierenden, nicht legalen Non-Kombattanten war die Hamas-Attacke sicherlich terroristisch. Ob es politisch für sie eine Berechtigung gibt, ist eine ganz andere Frage. Wie sind dann aber die israelischen Bombardierungen des Gazastreifens zu bewerten, die keinerlei Rücksichten auf Zivilisten nehmen und sogar durch die Dahiya-Doktrin für den zionistischen Staat offiziellen Charakter haben? Das Völkerrecht wertet solches Vorgehen als Kriegsverbrechen. Man könnte es aber auch als „Staatsterrorismus“ bezeichnen.
Der israelische Anthropologe Jeff Halper hat für diese Art des Staatsverbrechens eine auf Israel bezogenen sehr gute Definition formuliert: Halper wirft Israel Staatsterrorismusvor. Er schreibt:„Wichtig ist, dass sowohl ‚Araber‘ als auch Juden als vor-staatliche Milizen – und die Palästinenser/innen befinden sich immer noch in dieser Phase – ihre Zuflucht zum Terrorismus nahmen, den beide Seiten als eine effektive, sogar ausschlaggebende Strategie zur Erreichung politischer Ziele ansahen. Wichtig ist es festzuhalten, dass die jüdische Zuflucht zum Terrorismus 1948 [der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser] nicht endete. Er wurde nur umgewandelt in eine Politik des Staates und als Methode in Israels offizielle Streitkräfte integriert. Die gewaltsame Ent-Arabisierung und Judaisierung des Landes Israel/Palästina, die massiven Häuserzerstörungen von 1948 bis heute, sowohl in Israel als auch in den besetzten Gebieten, ein vierzig Jahre (und länger) dauernder Krieg gegen Zivilisten/innen, um eine Besatzung auf ewig zu verlängern, wiederholte und rücksichtslose Angriffe auf den Libanon einschließlich der fern ‚gesteuerten‘ Massaker von Sabra und Schatila [mit mehreren tausenden toten Palästinensern], eine Jahrzehnte währende Praxis der Ermordung palästinensischer Führungskräfte, die die Palästinenser einer effektiven politischen Führung beraubte – diese und andere Strategien und Aktionen machen den Israelischen Staatsterrorismus aus.“
Unter Bezug auf das Völkerrecht fährt Halper fort: „Das humanitäre Völkerrecht, im Besonderen die IV. Genfer Konvention, misst dem Schutz und dem Wohlergehen einer Zivilbevölkerung unter Besatzung eine besondere Bedeutung zu. Israel versucht, diese Verantwortung in vielfältiger Weise zu umgehen, sogar indem es die Tatsache der Besatzung selbst in Abrede stellt. Mit dem Ausbruch der zweiten Intifada boten sich ihm neue Möglichkeiten, Beschränkungen seines militärischen Vorgehens zu vermeiden. Israel erklärte die Intifada knapp als unterhalb der Kriegsschwelle und berief sich auf ein im Völkerrecht unbekanntes Konzept des ‚kriegsähnlichen Konflikts‘.“
Und weiter: „Unterdrückte Völker haben nach dem Völkerrecht das Recht auf Widerstand, selbst auf bewaffneten Widerstand, wobei allerdings Angriffe auf Zivilisten ausgeschlossen sind. Der Begriff des ‚kriegsähnlichen Konflikts‘ denunziert alle Formen des Widerstandes als ‚Terrorismus‘, gar als kriminelle Handlungen, wodurch das palästinensische Menschenrecht auf Selbstbestimmung praktisch aufgehoben wird. Dieses Konstrukt enthebt Israel jeder Verantwortung für Staatsterrorismus, für Angriffe auf die zivile Bevölkerung, die nach dem Völkerrecht auch dem Besatzer verboten sind.“
Halper fährt fort: „Seine Erfindungsgabe stellt dem Militär einen unbeschränkten Freibrief aus, alles unter dem Deckmantel eines ‚kriegsähnlichen Konflikts‘ ohne jede Zurückhaltung oder Verantwortlichkeit. Palästinensische Politiker und alle, die legitimen Widerstand leisten, können so ‚legal‘ ermordet werden, wobei die Tötung von Zivilisten als Kollateralschäden gerechtfertigt werden. Unter denselben Vorzeichen können Tausende von Palästinensern festgenommen und unbefristet eingesperrt werden, ohne dass ihnen der Status und die Rechte von Kriegsgefangenen zugestanden würden. Unglücklicherweise ist das internationale Staatensystem noch nicht so weit entwickelt, dass seine Gesetze durchgesetzt werden könnten, sodass es außer Israel für seine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, wenig gibt, was wir tun könnten, um seine Übergriffe zu beenden.“
Damit ist das gegenwärtige Vorgehen Israels gegen den Gazastreifen sehr gut beschrieben. Es handelt sich schlicht um Staatsterrorismus. Die deutsche Politik und die Mehrheit der Medien werden nicht müde, Israels Bombardierungen des Gazastreifens als „Selbstverteidigung“ zu rechtfertigen, die palästinensischen Opfer müssen da eben in Kauf genommen werden. Eine solche Sicht, die Vergeltung und Rache für legitim hält, ist nicht nur äußerst widersprüchlich, sie entpuppt sich moralisch als pure Heuchelei. Denn sie besagt nichts anderes als: Das eine brutale Morden ist gut (vermutlich von westlichen Werten getragen), das andere ist böse und reiner Terrorismus. Man kann die Palästina-Frage eben insgesamt nicht ausschließlich nach der Gewaltattacke der Hamas beurteilen. Würde man hier alle Massaker aufzählen, die Israel an den Palästinensern begangen hat, würde hier der Platz nicht ausreichen.
Aber selbst Israelis äußern da ihre Zweifel am israelischen Vorgehen. So gibt der israelische Journalist Gideon Levy zu bedenken, ob die Attacke der Hamas nicht der Preis für das gewaltsame Einsperren von über zwei Millionen Menschen im Gazastreifen (dem „größten Freiluftgefängnis der Welt“) sei. Aber – muss man hinzufügen – auch für die schon Jahrzehnte andauernde Besatzung mit all ihren furchtbaren Folgen: Landraub, Vertreibungen, Liquidierungen von palästinensischen Führern, Häuserzerstörungen, Pogrome der jüdischen Siedler, nächtliche Razzien mit Verhaftungen – auch von Kindern – und die Inhaftierung von Tausenden von Palästinensern, ob schuldig oder unschuldig. Dass dieses Konglomerat aus gnadenloser kolonialistischer Herrenmenschenarroganz irgendwann explodieren musste, war vorauszusehen. Israel hatte genug Zeit diese Explosion abzuwenden. Wenn dieser Staat seine Politik unbeirrt fortsetzt, wird dies nicht der letzte Gewaltausbruch gewesen sein.
Die Dämonisierung der Palästinenser als „Terroristen“, als „neue „Nazis“, jetzt obendrein noch als „wilde Tiere“ (Israels Verteidigungsminister Gallant, früher hatte schon Menachem Begin diese rassistische Formulierung benutzt) ist nicht neu. Am Anfang der zionistischen Besiedlung in Palästina wurden die palästinensischen Araber, die sich gegen den Raub und Ausverkauf ihres Landes wehrten, noch relativ milde als „Gangster“ und „Banditen“ tituliert. Später wurde aus dieser verachtenden Abwertung der indigenen Bevölkerung die Etikettierung „Terroristen“ eingeführt. Der Palästinenser Edward Said schrieb schon 1981: „Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat Israel einen neuen Menschentyp geschaffen, d.h. ihn im wahrsten Sinne des Wortes produziert: Ich meine damit nicht den ‚Araber‘, sondern den ‚Terroristen‘.“
An anderer Stelle ergänzt Said diese Aussage und bringt den Palästina-Konflikt auf eine Formel, die sich auch heute noch auf die aktuelle Situation exakt anwenden lässt: „Die Palästina-Frage kann nicht durch legale, militärische, kulturelle oder psychologische Mittel und Wege zum Verschwinden gebracht werden. Dennoch kann die Palästina-Frage – um hier einen positiven Aspekt zu betonen – als konkrete Geschichte in ihren menschlichen Dimensionen begriffen werden; sie ist kein gigantisches psychologisches Monstrum, das die gesamte Welt zu vergiften droht. Aber auf eben diese Weise ist sie bislang dargestellt worden. Zuerst weigerte sich der Zionismus, die Existenz einheimischer Bewohner Palästinas anzuerkennen; nachdem dies unumgänglich geworden war, billigte er den Einheimischen keine politischen und nationalen Rechte zu.
Als aber die Einheimischen ihre Rechte zu fordern begannen, wurde die westliche Welt systematisch dahingehend instruiert, den Kampf um diese Rechte mit Terrorismus, Völkermord und Antisemitismus gleichzusetzen. Dies ist nicht nur unsinnig, sondern es legitimiert sogar noch die Berechtigung, die über ein Jahrhundert anhaltende Gewalt gegenüber Palästinensern weiter fortzuführen und sich unendlich lange der Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrem Wahrheitsanspruch zu entziehen. Schlimmer noch: Eine derartige Haltung garantiert die kontinuierliche Zunahme an Gewalt, Leiden, sinnlosen Verlusten und vergeblichen ‚Sicherheitsvorkehrungen‘.“
Literatur:
Halper, Jeff: Ein Israeli in Palästina. Israel vom Kolonialismus erlösen, Berlin 2010
Said, Edward W.: Zionismus und palästinensische Selbstbestimmung, Stuttgart 1981