Feuilletonisten brauchen immer ihre kleinen Sensationen. Es ist ja sonst nicht so viel los in der Kulturszene. Und da ist „Antisemitismus“ immer ein willkommener Aufreger. Die letzte Documenta hatte da schon einiges zu bieten und jetzt gottseidank das internationale Filmfestival Berlinale in der Hauptstadt. Da war der Preisträger Ben Russell doch wahrhaftig mit einem Palästinensertuch auf die Bühne gekommen. Er und seine Kollegen forderten ein Ende des Mordens im Gazastreifen. Sogar das Wort „Genozid“ ist da gefallen und Höhepunkt der Schande für das Filmfest: Im Publikum wurde für diesen Auftritt sogar kräftig applaudiert.
Der regierende Bürgermeister Kai Wegner reagierte scharf, sprach von einer „untragbaren Relativierung“ [er meinte wohl zum Holocaust] und von „Antisemitismus“. Solche Vorfälle dürften sich auf der Berlinale nicht wiederholen. Die deutschen Medien waren sich wieder einmal einig: ein schlimmer Fall von Antisemitismus! Der prominente Publizist David Baum ereiferte sich vor allem über das Wort „Genozid“ und wollte das mit einer Definition belegen. „Der Begriff ist genau definiert. Wer Völkermord begeht, will eine ethnische Gruppe, die sich durch Sprache, Religion und Tradition definiert, ausrotten. Das Ziel Israels und seiner militärischen Operation ist es, die vom Iran gesteuerten Islamisten der Hamas unschädlich zu machen und seine 130 Geiseln zu befreien“, schrieb er.
Nun kann man über Begriffe trefflich streiten. Renommierte Völkerrechtler sprechen längst von Völkermord im Gazastreifen, weil Israel das bei solchen Auseinandersetzungen wichtige Kriterium der Verhältnismäßigkeit überhaupt nicht beachtet. Und außerdem: Wenn Israel wirklich nur die Hamas ausschalten und die Geiseln befreien will, musste es dann den ganzen Gazastreifen in ein Trümmerfeld verwandeln, 30 000 Menschen umbringen (davon 12 000 Kinder!) – die Tausenden Toten, die ungeborgen noch unter den Trümmermassen liegen, nicht mitgerechnet. Und muss Israel, die Menschen, die bisher das Glück hatten, zu überleben, Bedingungen aussetzen, die Augenzeugen als die „Hölle“ bezeichnen: kein Wasser, keine Lebensmittel, keine Arzneimittel und medizinische Hilfe und kein Dach mehr über dem Kopf.
Die amerikanisch-palästinensische Schriftstellerin Susan Abulhawa hatte jetzt Gelegenheit, von der ägyptischen Seite aus in den Gazastreifen einzureisen. Sie spricht in ihrem Bericht nicht mehr von einem „Völkermord“, sondern von einem „Holocaust“. Sie schreibt: „Zuerst haben die Menschen das Futter von Pferden und Eseln gegessen, aber das ist jetzt vorbei. Jetzt essen sie die Esel und Pferde. Einige essen streunende Katzen und Hunde, die ihrerseits verhungern und sich manchmal von menschlichen Überresten ernähren, die auf den Straßen liegen, wo israelische Scharfschützen auf Menschen schossen, die es wagten, in die Nähe ihrer Zielfernrohre zu kommen. Die Alten sind bereits verhungert und verdurstet.“
Wenn die israelische Armee wirklich nur die Täter der Hamas jagen will, warum zerstört sie dann Häuser, Schulen, Moscheen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Universitäten, Kulturzentren und Freizeiteinrichtungen? Ja, sogar Friedhöfe? Die Absicht ist klar: Hier soll eine ganze Kultur – ihre Geschichte, Erinnerungen, festgehalten in Archiven und Büchern – ausgelöscht werden. Die Zionisten sind immer so gegen die Palästinenser vorgegangen, sie praktizieren es auch diesmal wieder. Deshalb ist der Begriff Genozid hier durchaus angebracht. „Völkermord ist die vorsätzliche Zerstörung der Menschlichkeit der anderen“, schreibt Susan Abulhaba,
Sich hinter ein solches barbarisches Vorgehen zu stellen und Kritik daran als „Antisemitismus“ zu bezeichnen, sagt viel über das politische und kulturelle Niveau in diesem Land aus. Antisemitismus zu bekämpfen, wenn es sich denn wirklich um einen solchen handelt, ist selbstverständlich. Aber es ist höchste Zeit, einen Antisemitismus-Begriff zu hinterfragen, der vollständig an die Interessen Israels gebunden ist, diesen Staat vor Kritik schützen soll und jedes militärische Verbrechen dieses Staates deswegen gutheißt. So wird Unmoral zur Moral gemacht und auch noch als „Humanität“ glorifiziert, weil man ja den „Terrorismus“ bekämpft.
Hätte Israel seit Jahrzehnten nicht gegenüber den Palästinensern eine Eroberungs-, Besatzungs- und Unterdrückungspolitik betrieben, sondern eine auf Versöhnung und Frieden ausgerichtete Politik, brauchte es heute keinen „Terrorismus“ zu bekämpfen. Das deutsche Verstehen und die deutsche Liebe zu Israel müssen Grenzen haben. Es gilt zu unterscheiden, wo das Recht auf die völkerrechtlich zugesicherte Selbstverteidigung endet und die Rache und die Barbarei beginnen. Eine solche Differenzierung hat mit Antisemitismus gar nichts zu tun.
Eine solche Selbstverständlichkeit sollte man auch in Zukunft auf der Berlinale aussprechen können, will sie nicht jeden humanen Anspruch verlieren!
26.02.2024