Die renommierte Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat sich in die Auseinandersetzung um eine klare Antisemitismus-Definition eingemischt, die gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg wieder hochkocht. Sie schreibt, dass eine klare Differenzierung der Antisemitismus-Begriffe wichtig sei, weil sie der verbreiteten Instrumentalisierung des Begriffs für politische Zwecke entgegenwirke. Je unentwirrbarer und aufgeladener ein Begriff sei, desto toxischer werde er. Die Folge seien dann Drohungen und Emotionen, die wiederum nur der Erhaltung von Macht durch Steigerung der Gewalt dienten. Dieser Ansatz ist zweifellos richtig. Aber kann die Autorin mit ihren Definitionen dem selbst gesetzten Anspruch gerecht werden, Klarheit in einen diffusen Antisemitismus-Begriff zu bringen?
Sie unterscheidet drei Arten von Antisemitismus: den rechtsextremen, den muslimischen und den linken. Ihren Ausführungen zum nach wie vor existierenden rechtsextremen Antisemitismus, der seine Anfänge im christlich motivierten Judenhass hatte und sich im 19. Jahrhundert zu einer pseudowissenschaftlichen, auf dem Rassegedanken beruhenden irrationalen Weltanschauung entwickelte, ist nichts hinzuzufügen. Da besteht keine Differenz zu der Autorin.
Unter dem Punkt Rechtsextremismus geht die Autorin auf drei Dimensionen der heutigen deutschen Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust ein. Erstens: die Selbstverpflichtung zur Aufklärung über die historische Schuld und Verantwortung für diesen Zivilisationsbruch. Dieser Forderung kann man, wenn sie denn weit gefasst ist und andere Erinnerungsnarrative (multidirektionale Erinnerung nach Michael Rothberg) miteinbezieht, zustimmen. Ob die Autorin das aber tut, sagt sie nicht. Denn die zweite Forderung – „die Empathie mit den jüdischen Opfern überall auf der Welt“ – verweist auf die „Einzigartigkeit“ des Holocaust mit nur jüdischen Opfern. Im Holocaust wurden aber nicht nur Juden ermordet. Der deutsche Historiker Michael Wildt hat dieses Faktum so formuliert:
„Der Holocaust erwies sich (…) als ein komplexes Gewaltgeschehen, das unterschiedliche Täter und verschiedene Opfergruppen umfasste. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik richtete sich nicht allein gegen jüdische Opfer, sondern ebenfalls gegen Roma und Sinti, kranke und behinderte Menschen sowie gegen die Bevölkerungen in den besetzten Gebieten, besonders in Polen und Osteuropa.“ Warum soll es also Empathie nur mit den jüdischen Opfern und nicht allen Opfern des Holocaust geben?
Die dritte Forderung, die die deutsche Erinnerungskultur hervorgebracht habe, ist der Autorin zufolge „die deutsche Staatsräson, die darin bestehen soll, sich auch für die Sicherheit der Juden in Israel einzusetzen.“ Diese Forderung erhebt die Autorin völlig unkritisch, obwohl gerade in ihr die größte Brisanz steckt. Denn „Staatsräson“ fordert die völlige Loyalität mit einem Staat, der seit Jahren eine brutale Besatzungspolitik betreibt und dessen gegenwärtige Regierung einen extrem nationalistischen, ja rechtsradikalen und religiös-fundamentalen Kurs verfolgt. Und im Gazastreifen begeht die israelische Armee zurzeit – da sind sich die meisten Völkerrechtler einig – schwere Kriegsverbrechen.
Es sei in diesem Zusammenhang der israelische Historiker und Sozialwissenschaftler Moshe Zuckermann zitiert: „Man muss nicht Auschwitz heranziehen, um erschüttert zu werden von dem, was die Israelis in den besetzten Gebieten anrichten, von der von ihnen praktizierten Barbarei und ihrem brutalen Verhalten als Besatzer.“ Und zur israelischen Praxis des Holocaust-Gedenkens schreibt Zuckermann: „In der Tat verkam die Shoa gerade in Israel zum Bestandteil der Kulturindustrie. Der archaische jüdische Imperativ des Gedenkens („Zechor!“) gerann zu inflationären Erinnerung, zur Praxis der Nicht-Erinnerung durch fetischistische Routinisierung des Gedenkens – zur schauerlichen Verwirklichung des Nicht-Gedenkens.“
Der Begriff der „Staatsräson“ verlangt die bedingungslose Loyalität mit Israel und umfasst so – abgeleitet aus der „Einzigartigkeit“ des Holocaust (so Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel) – die Sicherheit und das Existenzrecht Israels. Der Holocaust wurde damit zur ultimativen Begründung der deutschen Außen- und zum Teil auch der Innenpolitik. Denn es gehört auch zur Staatsräson, dass Kritik an Israels Politik in Deutschland als „antisemitisch“ angeprangert wird – siehe die Institution der „Antisemitismus-Beauftragten“, die die Einhaltung des Antisemitismus-Kanons überwachen. Die Folgen für das politische und kulturelle Leben hierzulande sind verheerend: Einschränkung der Meinungs-, Presse-, Informations- und Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Auf diese für die Demokratie bedrohlichen Erscheinungen, die sich aus der „Staatsräson“ ergeben, geht die Autorin mit keinem Wort ein.
Auch über die Frag- und Kritikwürdigkeit des von der Holocaust-Erinnerungs-Gemeinschaft (IHRA) erarbeiteten Antisemitismus-Begriffs verliert sie kein Wort. Sie steht voll hinter dieser Definition, die angeblich vorrangig die Erinnerung an das deutsche Mega-Verbrechen im Sinne des „Nie wieder!“ hochalten will. Diese Mahnung ist eigentlich so selbstverständlich und auch schon vor der IHRA-Definition angemahnt worden, dass es ihrer eigentlich gar nicht bedarf. Der sehr angreifbare „Knackpunkt“ dieser Definition liegt in ihrer ganz eindeutigen und einseitigen Instrumentalisierung für die Interessen Israels.
Die IHRA-Definition lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen, die sich als Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Der von der IHRA-Plenarversammlung 2016 in Bukarest ursprünglich beschlossene Text wurde von IHRA-Gruppen (offenbar der Berliner Gruppe, der Sachverhalt ist nicht ganz klar) durch „Beispiele“ noch erweitert, die den „Israel-bezogenen Antisemitismus“ besonders betonen: etwa durch die Formulierung, dass das Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes antisemitisch sei. An diesem Punkt muss man fragen: Kann es Selbstbestimmung auf Kosten eines anderen Volkes (der Palästinenser) geben? Von der völkerrechtlich abgesicherten Selbstbestimmung dieses Volkes, auf dessen Boden Israel größtenteils lebt, ist in den Beispielen gar keine Rede.
Zweifelhaft ist auch der Satz: antisemitisch sei das Anwenden von doppelten Standards durch das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet und gefordert werde. Das wirft die Frage auf: Ist der israelische Staat, in dessen besetzten Gebieten fünf Millionen Menschen ohne bürgerliche und politische Rechte leben müssen und in dessen Kernland die Palästinenser (ein Fünftel der Bevölkerung) per Gesetz Bürger zweiter Klasse sind, wirklich eine Demokratie, an die man ganz normale Maßstäbe anlegen kann?
Die Kritik an der IHRA-Definition blieb denn auch nicht aus. Wissenschaftler halten sie für inkonsistent, widersprüchlich und zu vage formuliert. Die Kerndefinition des Antisemitismus hebe einige antisemitische Phänomene und Analysen übermäßig hervor, spare andere wesentliche aber weitgehend aus. Außerdem sei diese Definition ein „Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahost-Konflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren.“ (Peter Ullrich) Die israelische Propaganda und die Anhänger Israels glaubten nun aber, eine „Rechtsgrundlage“ für ihre Diffamierungskampagnen zu haben. Die Folge waren eine massive Einengung der Meinungs-, Presse-, Informations- und Wissenschaftsfreiheit in den westlichen Staaten und nicht zuletzt eine völlige Vergiftung des politischen Klimas.
Gegen diese Entwicklung geht die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus an, die jüdische, israelische und nicht-jüdische Wissenschaftler erstellt haben. Sie arbeiten auf den Gebieten Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahost-Studien. Ihr Ziel ist es erstens, den Kampf gegen den Antisemitismus zu verstärken, indem geklärt wird, was er ist und wie er sich manifestiert; zweitens einen Raum für eine offene Debatte über die leidige Frage der Zukunft Israels/ Palästinas zu schützen. Dies ist ein universalistischer Ansatz, der die Menschenrechte und das Völkerrecht anerkennt – im Gegensatz zur IHRA-Definition, die mit ihren Beispielen eher die partikularistisch-nationalistisch-zionistischen Interessen Israels vertritt. Die Jerusalemer Erklärung unterscheidet zudem zwischen Judentum und Israel und stellt die israelischen Juden nicht als Opfer und die Palästinenser nicht als die Aggressoren dar. Aleida Assmann gehört auch zu den Unterzeichnern der „Jerusalemer Erklärung“. Wie sie beide Texte miteinander vereinbaren kann, bleibt ihr Geheimnis.
Eng mit dem IHRA-Komplex hängt auch die Feststellung der Autorin zusammen, dass der Holocaust als „Schlüsselereignis“ die deutsche Identität dauerhaft bestimmt. Der Mord an den europäischen Juden ist für sie das nationale „Gründungsereignis“, das als Identitätsprägung anzuerkennen für das Land verbindlich ist. Aus dieser Festlegung, die man als Kanonisierung bezeichnen kann, ergeben sich automatisch wichtige kritische Fragen an die Autorin, die einer Antwort bedürfen. Erstens: Wird hier das Grauen von Auschwitz nicht vereinnahmend für die Legitimierung des deutschen Staates instrumentalisiert? Wenn das Gedenken an die Opfer des Holocaust nur ein Eingedenken um ihrer selbst willen sein kann und darf, also völlig zweckfrei sein muss, liegt dann hier, wenn man die Legitimität des Staates und die Identität seiner Einwohner damit begründet, nicht ein Sakrileg und ein Betrug an den Opfern vor, die sich gegen eine solche Vereinnahmung nicht mehr wehren können?
Zweitens bedarf die Frage nach den Konsequenzen des von der Autorin aufgestellten Kanons einer Antwort. Soll heißen: Die Verständigung auf das „Nie wieder Auschwitz!“ ist selbstverständlich. Aber welche politischen Forderungen und Konsequenzen ergeben sich weiter daraus? Mit der Berufung auf Auschwitz kann man Kriege rechtfertigen (wie Israel es mit seiner Gewalt gegen die Palästinenser tut, oder der deutsche Außenminister Joschka Fischer mit der Bombardierung Serbiens). Man kann mit Auschwitz aber auch pazifistische Positionen rechtfertigen. Was gilt?
Zum Punkt muslimischer Antisemitismus. Hier spricht die Autorin inzwischen wohl mit Blick auf die gegenwärtigen Demonstrationen gegen Israels Krieg im Gazastreifen von „Judenhass“. Sie schränkt aber ein, dass dieser „Judenhass“ nichts mit dem christlich-europäischen Antisemitismus zu tun habe. Man müsse hier klarer zwischen „Judenhass“ auf der einen Seite und einer politischen Reaktion auf die Gründung Israels seitens der Nachbarn unterscheiden. Sie mahnt auch an, dass man unseren Antisemitismus nicht einfach auf die Palästinenser projizieren dürfe, sondern im Gegenteil ihre besondere Geschichte und ihre Lage unabhängig von der unseren anerkennen müsse. Hier ist der Autorin zuzustimmen, denn das palästinensische Narrativ ist gegenwärtig in Deutschland ein Tabu, weil ein freier Diskurs die wahre Geschichte des zionistischen Israel offengelegt würde.
Zu fragen ist in diesem Kontext auch, ob die zweifellos in Deutschland stattfindende privilegierte Sonderbehandlung von Juden, die einseitige Parteinahme Deutschlands im Nahost-Konflikt und die daraus folgende diskriminierende Behandlung von Arabern hierzulande, speziell von Palästinensern, nicht Ursachen von Judenhass sind. Auch dass in Deutschland nicht offen bzw. nur hinter vorgehaltener Hand über die Täterrolle von zionistischen Juden in der Auseinandersetzung mit den Palästinensern gesprochen werden darf, da Juden nach deutschem Holocaust-Verständnis immer Opfer sind, muss Vorurteile, wenn nicht Hass auf Juden erzeugen. Die deutsche Politik produziert also an vielen Stellen Antisemitismus, den sie gleichzeitig zu bekämpfen vorgibt. Auch dazu sagt die Autorin nichts.
Im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt sind der Autorin einige historische Ungenauigkeiten unterlaufen. Denn die Gründung Israels war keine „direkte Folge“ des Holocaust, eher eine indirekte. Die Zionisten verfolgten das Ziel, in Palästina einen jüdischen Staat zu gründen, seit Ende des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt begann auch die zionistische Besiedlung des Landes. Und der „Unabhängigkeitskrieg“ 1948 richtete sich nicht gegen das britische Mandat (Großbritannien hatte dieses Mandat schon im September 1947 an die UNO zurückgegeben und bereitete Anfang 1948 den Abzug seiner Truppen aus Palästina vor), sondern gegen die Palästinenser und die arabischen Armeen, die am 15. Mai desselben Jahres in Palästina eindrangen, um den durch die Nakba bedrängten Palästinensern zu Hilfe zu kommen.
Zweifelhaft ist auch die Formulierung, dass die Nakba (auf die die Autorin ansonsten korrekt eingeht, ohne aber konkret die Zionisten als ihre Verursacher zu nennen) ein „Nebenprodukt“ der Entstehung des israelischen Staates war. Nein, sie war eine direkt und willentlich und mit Gewalt von den Zionisten durchgeführte ethnische Säuberung, um ihren Staat gründen zu können. Die Nakba hält bis heute an, denn noch immer raubt Israel im Westjordanland palästinensisches Land und vertreibt die Bewohner dort. (Was aus dem Gazastreifen wird, war zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels noch offen).
Die Autorin wiederholt dann ihre Feststellung, dass der muslimische Antisemitismus sich nicht gegen Juden als solche richte, sondern gegen den Staat Israel als Verursacher palästinensischen Leidens. Sie bezeichnet diesen Antisemitismus dann aber doch als „israelbezogenen Antisemitismus“. Um den desavouierenden und anprangernden Charakter dieses Begriffes zu vermeiden, wäre es viel klarer und überzeugender, wenn sie zwischen Antisemitismus und Antizionismus unterscheiden würde (und natürlich auch zwischen Judentum und Zionismus). Dann wäre deutlich, gegen wen und was Palästinenser und auch deutsche Aktivisten demonstrieren würden, ohne gleich Antisemiten zu sein.
Um „linken Antisemitismus“ zu belegen, greift die Autorin weit in die Geschichte zurück und führt als Beispiele die Rote-Armee-Fraktion (RAF) und die DDR an. Erstere unterhielt enge Beziehungen zu den Palästinensern einschließlich militärischer Ausbildung dort, letztere unterhielt keine diplomatischen Beziehungen mit Israel, sondern unterstützte die PLO. Auch hier muss man fragen: Handelte es sich bei diesen beiden Erscheinungen wirklich um Antisemitismus oder Antizionismus? Die Autorin unterstellt aber heutigen linken Aktivisten, die „linke Kritik am Staat Israel“ üben, keinen Antisemitismus, sondern gesteht ihnen zu, dass sie Hass und Gewalt verurteilen und sich für eine grenzüberschreitende Solidarität zu den Kriegsparteien einsetzen. Diese Bewegung sei friedensorientiert und werde für eine Überwindung der gegenwärtigen politischen Ausweglosigkeit dringend gebraucht.
Eine Form des Antisemitismus – vielleicht sogar die wichtigste – hat die Autorin aber schlicht ausgeblendet, vermutlich weil sie der von der „Staatsräson“ diktierten totalen Loyalität mit Israel widerspricht. Gemeint ist der „funktionale Antisemitismus“, den inzwischen mehrere israelische Autoren geschildert haben. Hier sei die Version angeführt, die der israelische Holocaust-Historiker Daniel Blatman beschrieben hat.
Er definiert diese neue Form des Antisemitismus, die Israel zur Verteidigung seiner Politik einsetzt, so: „Der traditionelle, vertraute Antisemitismus war gekennzeichnet durch eine vielfältige Feindseligkeit gegenüber Juden und Judentum, die Dämonisierung der Juden, die Beschäftigung mit ihren kollektiven Eigenschaften und ihren Geschäftsbeziehungen sowie Mythen und Stereotypen, die den Juden als den inkarnierten Teufel darstellten. Der neue Antisemitismus der heutigen europäischen nationalistischen Populisten – deren Definitionen Deutschland übernommen hat – könnte als funktionaler Antisemitismus definiert werden. Es basiert auf dem Prinzip, dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch definieren wollen, als solcher definiert wird.
Mit anderen Worten, es handelt sich nicht mehr um einen Antisemitismus, der zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet, sondern um einen, der zwischen Antisemiten und Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von der israelischen Regierung und von Juden und Nichtjuden, die ihn unterstützen, in Deutschland und anderen Ländern aufgestellt werden.
Was hier geschieht, ist nicht weniger als eine historische Revolution im Verständnis des Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht mehr, wer ein Jude ist, der aus der Gesellschaft verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden definieren, wer ein Antisemit oder ein Philo-Semit ist, und die Deutschen nehmen ihre Meinung an. Funktionaler Antisemitismus definiert Juden und Nichtjuden gleichermaßen als Antisemiten, basierend auf einer Reihe von Spezifikationen und Eigenschaften, die dem aktuellen Nationalismus Israels entsprechen. Und weil funktionaler Antisemitismus auch eine Art Dokument oder Organisation braucht, die seine Grenzen definiert – da es unvorstellbar ist, dass jeder selbst entscheiden soll, wer antisemitisch ist und wer nicht – , hat er sich auf die zehn Gebote der Internationalen Holocaust-Gedenkallianz geeinigt.“ Blatman verweist hier auf die oben erwähnte IHRA-Definition von Antisemitismus, die er wegen ihrer einseitigen Nähe zu Israel sehr scharf kritisiert.
Der israelische Soziologe Baruch Kimmerling hat den Sachverhalt des eklatanten Missbrauchs des Antisemitismus-Begriffs schon Jahre vor Blatman so formuliert: „Der Vorwurf des Antisemitismus ist [von Seiten Israels] zu einer mächtigen Waffe geworden, um jeden Widerspruch gegen Israels Politik der Unterjochung zu ersticken.“ So klar darf es die Autorin natürlich nicht sagen, dann käme sie mit der Loyalität zu diesem Staat in Konflikt. Israelische Autoren weisen aber auch immer wieder darauf hin, wie widerspruchsvoll die israelische Haltung zum Antisemitismus ist, denn der Zionismus braucht auch den Antisemitismus, weil nur er neue Einwanderer ins Land treibt.
Der Versuch, eine klare Differenzierung der Antisemitismus-Begriffe zu schaffen, den Aleida Assmann unternommen hat, will nicht überzeugen. Vor allem wohl deshalb, weil sie eine deutliche Kritik an Israels Politik vermeidet und an den Tabus der deutschen „Staatsräson“ gegenüber diesem Staat nicht rüttelt.
Literatur
Assmann, Aleida: Drei Formen von Antisemitismus. Antisemitismus ist nicht gleich Antisemitismus. Wir brauchen dringend klarere Unterscheidungen. Geschichte der Gegenwart Dezember 2023
Blatman, Daniel: Vielleicht existiert, wenn es um Antisemitismus geht, kein anderes Deutschland? Palästina Portal 3.07.2019
Kimmerling, Baruch: Politizid. Ariel Sharons Politik gegen das palästinensische Volk, München 2003
Merkel, Angela: Rede in der Knesset 2008
Wildt, Michael: Was heißt Singularität des Holocaust? Zeithistorische Forschungen/ Studies in Contemorary History, 19, 2022
Zimmermann, Moshe/ Zuckermann, Moshe: Denk ich an Deutschland…Ein Dialog in Israel, Frankfurt/ Main 2023