Egon Bahr, der Architekt der deutschen Entspannungspolitik der 70er Jahre, die letzten Endes dazu geführt hat, dass der Kalte Krieg zu Ende ging und Deutschland wiedervereinigt wurde, hat über die Aufgabe der Außenpolitik einmal gesagt: „Staaten haben erstens Interessen, zweitens Interessen und drittens Interessen.“ Ein solcher Politik-Begriff ist Annalena Baerbock völlig fremd, sie hat deutsche Außenpolitik vor allem mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger gemacht, das heißt: auf der Basis von Gesinnung und Moral. Wobei Moral eigentlich das falsche Wort ist, denn gute Außenpolitik kann durchaus moralisch sein, aber die Politik dieser Ministerin war moralistisch – und das konnte nur ein böses Ende nehmen.
Die grüne Außenministerin war in der Welt allgegenwärtig. Man möchte wissen, wieviel Tonnen Kerosin (das hohe CO2-Emissionen freisetzt) sie mit ihren ständigen Reisen auf dem Globus verbraucht hat. Das Ergebnis dieses Aktivismus ist aber eher bescheiden. Denn die Fachleute sind sich einig: Außenpolitisch hat Deutschland in den letzten Jahren beträchtlich an Gewicht verloren. Das Resultat von Annalena Baerbocks außenpolitischen Aktivitäten verhält sich also umgekehrt proportional zu ihrem reisenden Aktivitätsaufwand.
Der Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Fritz Söllner hat die „werteorientierte“ Außenpolitik, die Annalena Baerbock vertritt, in seinem jetzt erschienenen Buch Die Moralapostel. Zerstörung eines Exportweltmeisters untersucht, auf seine Darstellung wird im Folgenden Bezug genommen. Leider geht er nicht speziell auf die Nahost-Politik von Annalena Baerbock ein, denn hier zeigen sich die Widersprüche der grünen Außenpolitik besonders deutlich. Söllners Analyse lässt sich aber gut auf die verfehlte deutsche Nahost-Politik anwenden. Außerdem sei in diesem Zusammenhang auf das Buch des Nahost-Experten Michael Lüders zum selben Thema hingewiesen: Moral über alles. Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen.
Die werteorientierte Außenpolitik ist im Wesentlichen ein Werk der Grünen, sie haben diese Spielart der Politik so salonfähig gemacht, dass auch andere etablierte Parteien diesen Politikstil übernommen haben. Diese politische Haltung geht auf die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zurück, die der Soziologe Max Weber (1864 - 1920) entwickelt hat. Während die Verantwortungsethik stets die Folgen politischen Handelns bedenkt und ihr Tun daran ausrichtet, ist der Gesinnungspolitiker von sich und seiner überlegenen Moral völlig überzeugt und hält sich deshalb für berechtigt, diese Moral auch umzusetzen, ohne bei der Wahl der Mittel wählerisch zu sein.
Praktisch auf die Person Annalena Baerbock bezogen bedeutet das, dass in der Außenpolitik die eigenen nationalen Interessen um „unserer Werte“ willen vernachlässigt werden können. Eine solche Politik, bei der die Gesinnung und auch das Gefühl über den Verstand, die Emotion über die intellektuelle Einsicht in die Interessen die Oberhand behalten, hat durch ihre eher populistische Ausrichtung gute Chancen auf weite Verbreitung.
Fritz Söllner begründet die leichte Akzeptanz einer solchen Politik so: „Dies liegt vor allem daran, dass sie so bequem und verführerisch ist: Wenn es nur um Gesinnung und Moral geht, wenn man keine Verantwortung für die Konsequenzen seiner Politik übernehmen muss, dann braucht man sich auch keine Gedanken um diese Konsequenzen zu machen und muss Politik nicht mit dem Verstand, sondern kann sie mit dem Gefühl betreiben. Man benötigt auch keine besonderen Kompetenzen und keinen Sachverstand: Allein die gute Absicht zählt. Und wenn man diese Grundvoraussetzung erfüllt, dann braucht man nur dickes Sitzfleisch, spitze Ellbogen und ein biegsames Rückgrat, um in der Politik Erfolg zu haben. Ein klarer Verstand und ein fundiertes Wissen sind nicht nötig, ja sogar schädlich. Schließlich fällt es umso schwerer, eine bestimmte Gesinnung bedingungslos zu vertreten, je mehr man zu selbständigem Denken fähig ist.“
Der grüne politische Moralismus versteht sich dabei als die „einzig vertretbare und gültige Position“ – er ist eben eine festgefügte Ideologie. Damit ist automatisch eine starke Intoleranz verbunden, denn es gelten als oberstes Prinzip nur „unsere Werte“. Wer diese Position nicht akzeptiert, wird gleich ins Reich des Bösen verwiesen, einen rationalen ergebnisoffenen Diskurs darf es nicht geben. Man denke nur daran, dass Verhandlungsbereitschaft mit Russland zur Beendigung des Ukraine-Krieges sofort mit dem Etikett „Putin-Versteher“ oder „Verschwörungstheoretiker“ abgekanzelt wird. Annalena Baerbock hat ja immer wieder versichert, dass man sich mit Russland im Krieg befände. Ein anderes Beispiel: Jede Kritik an Israels Politik wird als „Antisemitismus“ gebrandmarkt.
In der Außenpolitik hat ein solcher Moralismus verheerende Folgen, denn dort sind Flexibilität, Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft unabdingbar. Solche politischen Tugenden vertragen sich aber nicht mit moralischer Prinzipientreue und Werteabsolutismus. Ganz im Gegenteil. Die werteorientierte Außenpolitik will anderen Staaten mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger die eigenen Werte aufzwingen, sie ist also von einem starken Missions- und Sendungsbewusstsein geprägt. Moralismus, Besserwisserei und Bevormundung sind die Mittel einer solchen Politik.
Der Autor sieht im politischen Moralismus die Symptome einer Krise des politischen Systems, weil die Normalität in Form von sachlichen politischen Auseinandersetzungen immer mehr durch emotionale Appelle an Werte und Ideale sowie durch Attacken auf den politischen Gegner unterminiert wird. Annalena Baerbock steht als Leitfigur für eine solche Politik. Sie ist durch die Welt gezogen, hat Führer anderer Staaten mit ihren moralischen Vorhaltungen und Hasstiraden verprellt und hat mit ihrer Strategie, nur auf die Zusammenarbeit mit Staaten, die „unsere Werte“ teilen, zu setzen, jede Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft ausgeschlossen. Was schon in der Sache absurd ist, denn man verhandelt ja in erster Linie mit politischen Gegnern, mit politischen Freunden stellt sich die Dringlichkeit weniger oder auch gar nicht. Realistisch wäre aber angesichts der globalen Probleme eine Zusammenarbeit mit allen Staaten der Welt.
Eine moralistische Außenpolitik, wie die Ampel-Regierung und vor allem Annalena Baerbock sie betrieben haben, ist – das ergibt sich aus dem bisher Gesagten – mit beträchtlichen Risiken verbunden. Wegen der engen Bindung an die eigene moralistische Ideologie, die absoluten Vorrang hat, gerät die politische Realität aus dem Blick. Anders gesagt: Moralismus macht realitätsblind. Zudem: Eine moralistische Außenpolitik muss sich wegen des Gegensatzes von Realität und Moral automatisch selbst in Widersprüche verwickeln.
So griff Annalena Baerbock immer wieder mit scharfen Attacken Putins Invasion in der Ukraine an, schwieg aber beharrlich zu Israels Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen – und das, obwohl die Grünen stets betonen, einer universalistischen Moral verpflichtet zu sein, also vorrangig Werten wie Gleichheit, Menschenrechten und Selbstbestimmung absolute Priorität einzuräumen. Anders gesagt: Eine moralistische Außenpolitik führt automatisch zu einer Haltung, die mit zweierlei Maß misst, oder auch schlicht zu einer Doppelmoral.
Das ist nur möglich, weil die politische Realität ausgeblendet wird. Beides – Ausblenden der Realität und politische Doppelmoral – kann man an Annalena Baerbocks Nahost-Politik gut ablesen. Die grausame Realität der israelischen Besatzung und des permanenten Landraubs hat sie gar nicht zu Kenntnis genommen, denn trotz dieser gar nicht zu leugnenden völkerrechts- und menschenrechtswidrigen Politik, betonte sie stets, Israel sei „ein Staat, mit dem wir dieselben Werte teilen“. Als Israels Rachefeldzug im Gazastreifen schon in vollem Gange war und kein Zweifel mehr bestand, dass hier ein Völkermord stattfindet, verteidigte sie immer noch beharrlich Israels Recht auf Selbstverteidigung.
Wobei sie eigentlich als jemand, der behauptet, „vom Völkerrecht herzukommen“, hätte wissen müssen, dass das Recht auf Selbstverteidigung nur bei Auseinandersetzungen zwischen Staaten gilt. Der Gazastreifen ist aber kein Staat, sondern israelisches Besatzungsgebiet. Gerade eine Politik, die sich auf Moral beruft, hätte Israel ganz anders ins Visier nehmen müssen. An dem Faktum, dass Deutschland durch moralische Unterstützung und Waffenlieferungen zum Komplizen eines Genozids geworden ist, trägt Annalena Baerbock einen großen Anteil der Schuld.
Fritz Söllner sieht das Hauptkennzeichen des Versagens der deutschen Außenpolitik der letzten Jahre – und damit vor allem auch Annalena Baerbocks – in ihrer Erfolglosigkeit. Wenn ihre „feministische Außenpolitik“ im Ausland eher belächelt und verspottet wurde, ist das noch eine harmlose Folge des grünen Moralismus. Der Autor sieht die grüne Außenpolitik auf ganzer Linie gescheitert und führt dafür als Hauptgrund an:
„Die Ursache für dieses Scheitern liegt auf der Hand: Eine Politik, die auf Werte und Moral fixiert ist – Werte und Moral, die zudem verabsolutiert werden – , der es vor allem oder ausschließlich auf gute Gesinnung und hehre Prinzipien ankommt, kann unmöglich rational in dem Sinn sein, dass die Konsequenzen der Politik bedacht werden, dass zwischen Kosten und Nutzen derselben nüchtern abgewogen wird und dass versucht wird, Ziele möglichst effektiv und möglichst effizient zu erreichen. Eine solche Politik ist nicht nur blind für die tatsächlichen Interessen des eigenen Landes, sondern auch für die möglichen und wahrscheinlichen Probleme bei der Erreichung der selbst gesteckten Ziele. Verschärft wird dieses Unvermögen noch dadurch, dass der politische Moralismus – eben aufgrund seines Absolutheitsanspruchs – dazu tendiert, sich sehr ehrgeizige und meist unrealistische Ziele zu setzen.“
Im Einzelnen nennt Söllner folgende Punkte für das Scheitern der grün-moralistischen Außenpolitik:
• Durch das Bekehrenwollen anderer Länder mit den eigenen Werten und Moralprinzipien hat Deutschland seine außenpolitische Position nicht gestärkt, sondern geschwächt. Wer Außenpolitik auf der Basis von Moral betreibt, gerät zwangsläufig in die Isolation. Wie weit sich die verheerende deutsche Komplizenschaft mit Israel im Gaza-Krieg negativ auf die deutsche Stellung in der internationalen Politik – besonders im globalen Süden – ausgewirkt hat, berücksichtigt der Verfasser leider nicht.
Es sei hier deshalb an die Feststellung des Ägypters Mohamed El Baradei, des früheren Generaldirektors der Internationalen Atomenergiebehörde in Wien, erinnert. Er schrieb dem Westen und damit auch den Deutschen ins Stammbuch: „Darüber hinaus hat die arabische bzw. die muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht. (…) Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg ein Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.“ Worte, die deutlich machen, wie sehr die deutsche Außenpolitik in den letzten Jahren versagt und damit an Einfluss in der Welt verloren hat.
• Das Stoppen der russischen Öl- und Gaslieferungen während des Ukraine-Krieges hat für Deutschland großen wirtschaftlichen Schaden angerichtet. Die Gründe für diese Maßnahmen waren von moralistischer Gesinnung diktiert – gegen jede Kosten-Nutzen-Abwägung. Dass der Schaden für das eigene Land größer als für Russland sein würde, spielte bei der Entscheidung keine Rolle. Energie- und Wirtschaftskrise, Deindustriealisierung und Abwanderung großer Firmen sind die Folgen. Dass die gegen Russland verfügten Sanktionen für das Zielland so gut wie wirkungslos blieben, musste selbst Annalena Baerbock zugeben – sie, die vorher so groß getönt hatte, „man müsse Russland ruinieren“.
Der Politologe, Historiker und Nahost-Experte Michael Lüders argumentiert ganz ähnlich und merkt dazu an: „Die Selbstzerstörung der eigenen Volkswirtschaft willentlich und wissentlich in Kauf zu nehmen, im Namen hochfliegender Phraseologie, zeugt von sträflicher Dummheit und Verantwortungslosigkeit. Den eigenen Wohlstand auf dem Alter des Moralismus zu opfern, ist keine Politik, sondern ein Offenbarungseid.“
• Das Scheitern und Versagen der deutschen Außenpolitik hat auch mit der totalen politischen Abhängigkeit Deutschlands von den USA zu tun. Da die Grünen (und besonders ihre Außenministerin) völlig Amerika-hörig sind und deshalb auf jede eigenständige Außenpolitik im Sinne der Vertretung deutscher Interessen verzichten und sich gegenüber anderen Staaten als Moralweltmeister aufspielen, konnte das Scheitern grün-moralistischer Außenpolitik durch „fahrlässige Ruinierung“ nicht ausbleiben.
Der Autor sieht nicht nur die deutsche Außenpolitik äußerst kritisch, er sieht auch als Folge dieser falschen Politik das deutsche Wirtschaftssystem und damit den Wohlstand bei Fortführung dieser Politik in höchstem Maße gefährdet. Der wirtschaftliche Schaden, den der politische Moralismus anrichtet, lässt sich mit den Anteilen verschiedener Staaten am weltweiten Bruttosozialprodukt ablesen. Während die Sozialprodukte von China, den USA und dem Rest der Welt (etwa den BRICS-Staaten) in den letzten Jahren angestiegen sind, ist Deutschlands Sozialprodukt anteilig am weltweiten Bruttosozialprodukt deutlich gefallen: von 6,4 Prozent (1980) und 3,2 Prozent (2023) auf (prognostizierte) 2,9 Prozent (2028).
Der Autor plädiert als Ausweg aus der Krise für eine Politik mit Moral, aber ohne Moralismus. Vor allem müsse Deutschland seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen formulieren und durchsetzen: „Die werteorientierte Außenpolitik ist aufzugeben und durch eine Außenpolitik zu ersetzen, die nicht moralistisch, aber moralisch, die nicht idealistisch, sondern realistisch ist. Eine solche Politik kann nur das Resultat einer Synthese zwischen den wohlverstandenen und wohlbedachten nationalen Interessen einerseits und den zentralen und wichtigsten Wertvorstellungen und Moralprinzipien andererseits sein. Auf diese Weise kann den Interessen des eigenen Landes innerhalb eines moralischen Orientierungsrahmens Rechnung getragen werden, welcher verhindert, dass die Außenpolitik zu einem Blatt im Winde veränderlicher und schwankender Interessen wird, und dadurch für Verlässlichkeit und Berechenbarkeit gegenüber anderen Ländern sorgt.“
Man kann nach der Lektüre dieses Buches nur sagen, Egon Bahr hatte Recht mit seiner Definition von Außenpolitik, dass es in ihr nur um Interessen und nochmals um Interessen geht. Und deshalb ist zu konstatieren: Das grüne außenpolitische Experiment ist wegen seiner Realitätsblindheit und moralistischen Überheblichkeit gescheitert. Söllners Buch ist ein guter Leitfaden, die deutsche Außenpolitik wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der Regierungsantritt der neuen schwarz-roten Koalition steht bevor. Es ist aber kaum zu erwarten, dass sie sich außenpolitisch mehr an den Realitäten in der Welt und an den deutschen Interessen orientieren wird. Annalena Baerbock wird über ihren neuen Posten bei der UNO, bei dem sie wenigstens keinen Schaden anrichten kann, sicher an einem weiteren Karrieresprung arbeiten. Gott behüte das Land aber vor dem weiteren politischen Wirken dieser gescheiterten Außenpolitikerin.
Fritz Söllner: Die Moralapostel. Zerstörung eines Exportweltmeisters, Langen Müller Verlag München, ISBN 978-3-7844-3715-6, 26 Euro
Zum selben Thema:
Michael Lüders: Moral über alles. Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen, Goldmann Verlag München 2023, ISBN 978-3-442-31731-8, 18 Euro