Die Linke wollte auf ihrem Parteitag am letzten Wochenende Harmonie demonstrieren. Das wäre auch fast gelungen, wenn da nicht das brisante Thema Israel und Antisemitismus wäre. Denn daran scheiden sich in dieser Partei die Geister. Es gibt zurzeit zwei Definitionen von Antisemitismus, die um die Vorherrschaft streiten. Die Delegierten stimmten mit knapper Mehrheit der Jerusalemer Erklärung zu – sie ist der ein Versuch von Experten, Judenhass zu definieren. Die IHRA-Begriffsbestimmung von Antisemitismus (International Holocaust Remembrance Alliance) ist der andere Versuch, auch sie ist eine Definition von Experten.
In ihren Grundaussagen liegen beide Definitionen nicht so weit auseinander. Die Jerusalemer Erklärung bestimmt Antisemitismus so: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteile, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als Juden).“ In der IHRA-Definition heißt es: „„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden und Jüdinnen, die sich als Hass gegenüber Juden und Jüdinnen ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische und nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Aber die Unterschiede stecken im Detail. Die IHRA-Definition ist – das lässt sich inzwischen gut belegen – ein Produkt intensiver Propagandaarbeit der zionistischen Lobby. Denn Vertreter dieser Lobby haben der obigen Definition noch einige „Beispiele“ hinzugefügt, die in der ursprünglichen Fassung nicht vorkamen und eindeutig auf israelischen Einfluss hinweisen – etwa durch die Formulierung, dass das Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes antisemitisch sei. An diesem Punkt muss man fragen: Kann es Selbstbestimmung auf Kosten eines anderen Volkes (der Palästinenser) geben? Von der völkerrechtlich abgesicherten Selbstbestimmung dieses Volkes, auf dessen Boden Israel größtenteils lebt, ist in den Beispielen gar keine Rede.
Zweifelhaft ist auch der Satz: antisemitisch sei das Anwenden von doppelten Standards durch das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet und gefordert werde. Das wirft die Frage auf: Ist der israelische Staat, in dessen besetzten Gebieten fünf Millionen Menschen ohne bürgerliche und politische Rechte leben müssen und in dessen Kernland die Palästinenser (ein Fünftel der Bevölkerung) per Gesetz Bürger zweiter Klasse sind, wirklich eine Demokratie, an die man ganz normale Maßstäbe anlegen kann? Und ist es ein doppelter Standard, wenn man Israel wegen des Völkermords, den es gerade im Gazastreifen begeht, verurteilt und von ihm die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten fordert?
Die Kritik an dieser Definition, die von mehreren Staaten und auch von der Bundesregierung akzeptiert wird, blieb denn auch nicht aus. Wissenschaftler halten sie für inkonsistent, widersprüchlich und zu vage formuliert. Diese Kerndefinition des Antisemitismus hebe einige antisemitische Phänomene und Analysen übermäßig hervor, spare andere wesentliche aber weitgehend aus. Außerdem sei diese Definition ein „Einfallstor für ihre politische Instrumentalisierung, etwa um gegnerische Positionen im Nahost-Konflikt durch den Vorwurf des Antisemitismus zu diskreditieren.“ (Peter Ullrich) Die israelische Propaganda und die Anhänger Israels glaubten nun aber mit ihr, eine „Rechtsgrundlage“ für ihre Diffamierungskampagnen zu haben. Die IHRA-Definition stellt eine Scheinlegitimität her, die es in Deutschland Behörden und Institutionen ermöglicht, Grundrechte einzuschränken, zum Beispiel Raumverbote für Israel-kritische Veranstaltungen auszusprechen und so die Ausübung der Meinungs-, Informations-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie der Wissenschaftsfreiheit (Artikel 5, Absatz 1 Grundgesetz) ernsthaft zu gefährden. Sehr viele Veranstaltungen mit Israel-kritischem Charakter sind in Deutschland schon untersagt worden, oftmals konnten sie erst nach gerichtlichen Interventionen stattfinden.
Der israelische Holocaustforscher Daniel Blatman merkt dazu an: Interessant und aufschlussreich sei, wie der IHRA-Text zustande gekommen sei. Israels Einfluss in der IHRA-Organisation sei sehr stark, denn es sei dort führendes Mitglied, und der Holocaust-Forscher Yehuda Bauer sei ihr erster akademischer Berater. Zudem habe Israels Ministerpräsident Netanjahu die Organisation wegen ihrer Rolle im Kampf gegen BDS geradezu verherrlicht. Blatman nennt IHRA eine „unnötige und zerstörerische Organisation.“ Israel hat sich also mit dieser Definition sehr geschickt gegen Kritik an seiner so umstrittenen Politik abgesichert: Blatman spricht in diesem Zusammenhang von einem funktionalen Antisemitismus-Begriff. Das heißt, mit der IHRA-Definition kann Israel einen speziell auf seine Bedürfnisse zugestutzten Antisemitismus-Begriff benutzen. FunktionalerAntisemitismus ist so gesehen das, was die israelische politische Führung dafür ausgibt und was ihren Interessen dient, so Daniel Blatman.
Der israelische Historiker Avi Shlaim resümiert: Das ursprüngliche Ziel der IHRA war, historische Genauigkeit über den Holocaust zu gewährleisten und Antisemitismus zu bekämpfen. Diese ursprüngliche Definition ist aber durch die „Beispiele“ in ihr Gegenteil verkehrt worden: „Die Definition, die Juden vor Antisemitismus schützen sollte, wurde verdreht, um den Staat Israel vor berechtigter Kritik zu schützen, die nichts mit antijüdischem Rassismus zu tun hat.“
Gegen diese Entwicklung geht nun die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus an, die jüdische, israelische und nicht-jüdische Wissenschaftler erstellt haben. Sie arbeiten auf den Gebieten Holocaust-, Israel-, Palästina- sowie Nahost-Studien. Ihr Ziel ist es erstens, den Kampf gegen den Antisemitismus zu verstärken, indem geklärt wird, was er ist und wie er sich manifestiert; zweitens den Raum für eine offene Debatte über die leidige Frage der Zukunft Israels/ Palästinas zu schützen. Dies ist ein universalistischer Ansatz, der die Menschenrechte und das Völkerrecht anerkennt – im Gegensatz zur IHRA-Definition, die mit ihren Beispielen eher die partikularistisch-nationalistisch-zionistischen Interessen Israels vertritt. Die Jerusalemer Erklärung unterscheidet zudem zwischen Judentum und Israel und stellt die israelischen Juden nicht als Opfer und die Palästinenser nicht als die Aggressoren dar.
Die Jerusalemer Erklärung sagt u. a. klipp und klar, dass die Unterstützung der palästinensischen Forderung nach Gerechtigkeit und der uneingeschränkten Gewährung ihrer politischen, nationalen, bürgerlichen und Menschenrechte, wie sie im Völkerrecht verankert sind, nicht antisemitisch ist. Auch Kritik oder Ablehnung des Zionismus als Form des Nationalismus und die Argumentation für eine Vielzahl von Verfassungsregelungen für Juden und Palästinenser in der Region zwischen Jordan und dem Mittelmeer sind nicht antisemitisch. Auch die Forderung nach Gleichheit für alle Bürger „zwischen Fluss und Meer“ – egal in welcher staatlichen Form sie realisiert werden sollte, ist nicht antisemitisch. Zudem fällt auch Kritik an Israel als Staat, seinen Institutionen und Gründungsprinzipien und an seiner Politik im In- sowie Ausland sowie auch der Hinweis auf Rassendiskriminierung durch Israel nicht unter die Kategorie Antisemitismus. Das gilt auch für die BDS-Bewegung, die als alltägliche, gewaltfreie Form des politischen Protestes gegen Staaten bezeichnet wird.
Die Jerusalemer Erklärung ist ein großer Fortschritt in der Antisemitismus- und Nahost-Debatte, weil sie die Auseinandersetzung mit den universalistischen Prinzipien von Vernunft und Aufklärung angeht. Außerdem stellt sie Israels Monopol in Frage, allein und sehr einseitig darüber bestimmen zu können, was Antisemitismus ist. Es wird mit dieser Erklärung schwieriger, ja unmöglich, die Vertreter von Menschenrechten und Völkerrecht, die für die Rechte der Palästinenser eintreten, an den Antisemitismus-Pranger zu stellen. Die Jerusalemer Erklärung stellt Recht und Moral wieder vom Kopf auf die Füße.
Diese Erklärung wurde von 211 renommierten jüdischen und nicht-jüdischen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur unterzeichnet. Es sei hier auf einige Namen von prominenten jüdischen Unterzeichnern hingewiesen, die auch einer größeren Öffentlichkeit bekannt sind: Daniel Blatman, Micha Brumlik, John Bunzl, Richard Falk, Amos Goldberg, Eva Menasse, Susan Neiman, Moshe Zimmermann und Moshe Zuckermann. Bekannte nicht-jüdische Unterzeichner sind die deutschen Antisemitismus-Forscher bzw. Judaisten Wolfgang Benz, Peter Schäfer und Peter Ullrich.
Stellt man beide Definitionen gegenüber, versteht man die Front in der Linken sehr viel besser. Da stehen sich Israelanhänger und -kritiker gegenüber. Jan van Aken und Bodo Ramelow verteidigen mit Vehemenz die IHRA-Definition. Ersterer erklärte: „Beim Schutz von Jüdinnen und Juden, sowohl hier als auch in Israel, gibt es kein Vertun. Das Existenzrecht Israels bleibt auch weiterhin unangefochten Teil unserer DNA.“ Wo aber tastet die Jerusalemer Erklärung den Schutz der Juden in Deutschland an, und wo gefährdet sie das Existenzrecht Israels? Das möchte man von Jan van Aken gern wissen.
Bodo Ramelow setzte noch eins drauf und will die Definition von Antisemitismus ausschließlich Wissenschaftlern überlassen und fügte hinzu: „Wer Israel auslöschen und Juden vernichten oder vertreiben will, ist Antisemit!“ Einmal abgesehen davon, dass die Jerusalemer Erklärung von Wissenschaftlern formuliert worden ist, wo steht in dieser Erklärung etwas von der Absicht, Israel auszulöschen und Juden vernichten oder vertreiben zu wollen? Ramelows Ängste sind völlig aus der Luft gegriffen und beinhalten zugleich üble Unterstellungen gegenüber den Verfassern der Jerusalemer Erklärung.
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster stellte sich hinter van Aken und Ramelow und griff die Anhänger der Jerusalemer Erklärung, die auf dem Parteitag die Abstimmung gewonnen hatten, so an : „Die Linke zeigt, wo sie steht – und das ist nicht an der Seite der Jüdinnen und Juden in Deutschland.“ Und: „Die Ignoranz der Linkspartei gegenüber der jüdischen Gemeinschaft, in der die IHRA-Definition weltweit anerkannt ist, zeigt einen radikalen Kern der Partei, der – getrieben von Israelhass – dazu beiträgt, den Antisemitismus unserer Zeit zu verschweigen.“
Einmal davon abgesehen, dass Schusters Zentralrat nur 40 Prozent der Juden in Deutschland vertritt (Wikipedia) und damit gar nicht für alle Juden in Deutschland sprechen kann, erklärt er mit seiner Attacke alle Menschen, die nicht die IHRA-Definition akzeptieren und damit auch die Vertreter der Jerusalemer Erklärung zu Antisemiten. Absurder geht es nicht!
Schusters Vorwürfe und der Konflikt in der Linken, in der ja immer noch eine große Minderheit der IHRA-Definition anhängt, offenbart etwas ganz anderes: Das Judentum ist tief gespalten in Universalisten (den Anhängern von Völkerrecht und Menschenrechten) und radikalen Nationalisten (Zionisten), die diese Rechte ablehnen, bzw. Menschenrechte nur für Juden akzeptieren, gegenüber Nichtjuden – etwa Palästinensern! – aber ablehnen. Es sei hier die israelische Soziologin Eva Illouz zitiert, die in ihrem Buch Israel (Suhrkamp Verlag) schreibt: „Wer in Israel für Menschenrechte eintritt, gilt als Verräter!“ Diese Spaltung des Judentums spiegelt sich auch in der Linkspartei wider.
Der Parteitag der Linken hat in dieser Frage gezeigt, dass die Partei mit der Billigung der Jerusalemer Erklärung einen großen Schritt nach vorn gemacht hat, und der größere Teil der Partei sich dem Verstehen der politischen Realität dieses Staates annähert – was angesichts des Völkermords im Gazastreifen eigentlich keiner Debatte bedarf. Der andere Teil der Partei ist von diesem Verständnis noch weit entfernt und führt eine absurde Debatte, obwohl es für eine linke Partei doch selbstverständlich sein sollte, für wen sie eintreten und hinter wem sie stehen muss: immer hinter den Schwachen, Unterdrückten und Verfolgten.
12.05.2025