Die deutschen Medien berichten zwar ausführlich über Israels Krieg im Gazastreifen, meiden aber tunlichst die Begriffe Völkermord oder Genozid, denn dass aus israelischen Opfern Täter geworden sind, ist für deutsche Politiker und Publizisten ein immer noch tabuisierter Gedanke. Und sie blenden zumeist etwas anderes aus: das Schicksal der palästinensischen Kinder. Fast 20 000 hat die israelische Armee bei ihrem Rachefeldzug gegen die Hamas ermordet. Wie viele Kinder ihre Eltern oder Angehörigen verloren haben, wie viele zu Krüppeln bombardiert oder geschossen worden sind, wie viele noch tot unter den Trümmern liegen, wie viele noch an Hunger oder ausbleibender medizinischer Versorgung sterben werden und wie viele traumatisiert weiterleben müssen, lässt sich kaum ermitteln.
Die Palästinenser waren für die Zionisten immer der Feind, nicht weil diese sich irgendetwas hätten zuschulden kommen lassen, sondern einfach, weil sie da sind und dem zionistischen kolonialen Siedlerprojekt in Palästina im Wege standen und stehen. Und europäische Siedlerkolonialisten sind nie mit den indigenen Völkern human und „christlich“ umgegangen – siehe das Vorgehen der Weißen in beiden Amerikas, Indien, Australien und anderswo. Israel macht da mit den Palästinensern keine Ausnahme. Und immer mussten die Kinder unendliches Leid ertragen, wenn man sie den am Leben ließ.
Die Israelis haben palästinensische Kinder nie mit ihrem rassistischen Hass verschont. Sie sind genauso der „Feind“ wie die erwachsenen Angehörigen dieses Volkes. Es sei an den Satz der früheren israelischen Justizministerin und späteren Innenministerin Ayeled Shaked erinnert, die empfahl, palästinensische Mütter zu töten, weil sie ja kleine „Schlangen“ gebären würden, die später „Terroristen“ werden könnten. Berühmt berüchtigt ist auch Golda Meirs zynischer Ausspruch: „Wir können den Arabern verzeihen, dass sie unsere Kinder umbringen. Wir können ihnen aber nicht verzeihen, dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten. Wir werden erst dann Frieden mit den Arabern haben, wenn sie ihre Kinder mehr lieben, als dass sie uns hassen.“
Sätze, die auch von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in dieser oder ähnlicher Form ständig wiederholt werden. Und während Israels jetzigem Gaza-Feldzug gab es immer wieder ganz unverhohlen und öffentlich von Politikern und Militärs vorgetragen die Forderung, die Kinder und selbst Babys dort nicht zu verschonen, weil sie die nächste Generation von „Terroristen“ stellen würden. Nach zionistischer Auffassung sind ja alle Palästinenser „Terroristen“, woraus dieser Staat die Rechtfertigung ableitet, so brutal gegen dieses Volk vorzugehen.
Der Autor und Aktivist Ekkehart Drost hatte schon vor Jahren das Buch Kindheit und Jugend unter der Besatzung herausgegeben. Er ging damals vor allem auf das brutale Vorgehen der israelischen Armee gegen die palästinensischen Kinder im Westjordanland ein: Wie Kinder unter dem realen oder erfundenen Vorwurf des Steinewerfens auf israelische Militärautos einer grausamen juristischen Prozedur unterworfen werden: Sie werden zumeist nachts bei Razzien von den Soldaten aus den Betten geholt und – gefesselt und die Augen verbunden – abtransportiert.
Dann folgt immer derselbe Ablauf: überaus harte Verhöre, unter Druck erpresste Geständnisse; Unterschriften unter hebräisch formulierte Schuldprotokolle, die die Kinder sprachlich gar nicht verstehen können; Gerichtsverhandlungen und Urteile, die zumeist zischen Militärrichtern und Anwälten routinemäßig ausgehandelt werden. Und dann das Verkünden von kürzeren oder längeren Gefängnisstrafen. Für Steinewerfen kann es bis zu 20 Jahre Gefängnis geben! Manchmal werden auch Kinder mit Administrativhaft bestraft. Das heißt: Monatelanges Einsitzen im Gefängnis, ohne einen Anwalt oder den Besuch von Angehörigen zuzulassen. Misshandlungen und Folter sind nicht die Ausnahme. Nach der Entlassung sind die Kinder oder Jugendlichen zumeist schwer traumatisiert, werden unzugänglich, ziehen sich in sich selbst zurück, verweigern Kontakte und den Schulbesuch.
Man fragt sich, wie ein Staat gegen alle Regeln der Humanität und Gesetze der Menschlichkeit so mit Kindern verfahren kann. Die Antwort ist aber eindeutig und klar: Die Kinder sollen seelisch gebrochen werden, damit sie sich in ihrem weiteren Leben der Unterdrückung der Besatzung fügen und jeden Gedanken an Widerstand aufgeben. Das ist Israels Verständnis von Sicherheit!
Der Autor stellt angesichts solcher horrenden Zustände sehr berechtigte Fragen:
• Wer denkt sich ein derartiges Unrechtsregime aus?
• Wie tief müssen Hass und Verachtung sein, um Menschen schlimmer als Tiere zu behandeln?
• Warum hört man in den westlichen Ländern keinen Aufschrei des Protests gegen einen Staat, mit dem man sich doch angeblich in einer Wertegemeinschaft befindet?
• Was wird aus den jungen Menschen nach derartigen Torturen? Können sie überhaupt noch Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben haben, oder sehnen sie nur die nächste Intifada (also Rache) herbei?
Ist die Behandlung der Minderjährigen im Westjordanland schon unerträglich und im höchsten Sinne menschenverachtend (inzwischen sind auch Kinder dort immer mehr von der Gewalt der Siedler betroffen, die die Armee und Polizei ohne einzugreifen geschehen lässt), hat Israels Rachefeldzug im Gazastreifen dem noch eine furchtbare Steigerung hinzugefügt. Hier wurde – wie oben schon erwähnt – keinerlei Rücksicht mehr auf Zivilisten und damit auch auf Kinder und Jugendliche genommen. Sie wurden regelrecht zur Bombardierung und zum Abschuss freigegeben. Fast 70 000 tote Zivilisten und fast 20 000 tote Minderjährige sind die schreckliche Bilanz.
Stellt man die Frage, wie so etwas möglich ist, muss man dem israelischen Historiker Avi Shlaim vorbehaltlos zustimmen: Die Gewalt hat ihre Ursache in der völkermörderischen Logik des Zionismus, der nur ein Ziel verfolgt, ganz Palästina in seinen Besitz zu bringen, mit so wenig Palästinensern wie möglich darin. Sie sind, wenn sie sich dem zionistischen Regime nicht gefügig unterordnen, entweder zu vertreiben oder zu eliminieren. (Diese Auffassung wird im Übrigen auch von dem deutschen Völkerrechtler Norman Paech und der Politikwissenschaftlerin Helga Baumgarten vertreten.)
Drost selbst und verschiedene prominente Autoren, die er für sein Buch gewonnen hat (Amira Hass, Gideon Levy, Mario Vargas Llosa, Abed Schokry und Lee Mordechai) belegen das brutale und inhumane Vorgehen der israelischen Armee mit vielen Beispielen: Wie verletzten Kindern nicht geholfen werden kann, weil die medizinischen Mittel fehlen oder sie ohne Betäubung operiert werden. Oder wie Kinder, deren Eltern oder Angehörige den israelischen Bomben zum Opfer gefallen sind, plötzlich auf sich allein gestellt sind und unter härtesten Bedingungen zu überleben versuchen. Sehr anschaulich sind die Schilderungen von Abed Schokry, der selbst den Beginn des Mordens in Gaza miterlebt hat.
Und der israelische Historiker Lee Mordechai von der Hebräischen Universität in Jerusalem, der die israelischen Kriegsverbrechen genau protokolliert, fragt: „Nach 556 Tagen ist Gaza kein Ort mehr. Es ist ein Experiment, eine Frage, die der Menschheit gestellt wird: Wie lange kann man eine Bevölkerung bombardieren, aushungern und vertreiben, bis sie aufhört zu existieren?“ Er prognostiziert: Dieser Krieg, der gar kein Krieg ist, sondern eben ein Völkermord, bringt niemandem Gerechtigkeit, Sicherheit und Frieden. Er wird eine Generation voller Schmerz, Hass und Rache hervorbringen.
Es ist Ekkehart Drost zu danken, dass er sich des besonderen Aspekts der Kinder unter den Bedingungen von Besatzung und Genozid angenommen hat – ein Aspekt, der sonst von Politik und Medien immer nur am Rande behandelt wird. Gerade dieser Aspekt demonstriert aber ganz besonders die Brutalität der israelischen Politik und – das darf man dabei nicht übersehen und verdrängen: das völlige Versagen der westlichen Staaten angesichts des Völkermords im Gazastreifen, der auch vor den Kleinsten und Unschuldigsten nicht Halt macht. Wer noch Zweifel hat und Israel immer noch verteidigt, weil er glaubt, Israel verkörpere das Gute und die Hamas den Teufel, der sollte zu diesem Buch greifen.
Ekkehart Drost (Hrsg. und Bearbeiter): Kindheit und Jugend unter israelischer Besatzung. 3. Auflage September 2025, Vertrieb: Ekkehart Drost (e1944drost@gmx.de)