Der deutsch-israelische Historiker Michael Wolffsohn hat ein kleines Buch über Antisemitismus geschrieben. Wenn ich dem Gedankengang in diesem Buch folge, bin ich ein übler Antisemit. Ich setze mich seit vielen Jahren schreibend und als Aktivist dafür ein, dass man den von Israel besetzten und unterdrückten Palästinensern endlich Gerechtigkeit zukommen lässt und dass sie – wie möglichst alle Menschen auf diesem Globus – ein Leben in Würde und Selbstbestimmung führen können. Mit einem Wort: dass die 1945 in der UNO-Charta niedergelegten Menschenrechte (an der Ausarbeitung dieser Charta haben maßgeblich auch Juden mitgewirkt) endlich auch für dieses so leidgeprüfte Volk gelten.
Ein solches Bekenntnis reicht in der Sicht von Michael Wolffsohn aus, dass ich mich als ein gefährlichen „Antisemit“ verstehen muss. Denn er nennt drei gesellschaftliche Gruppen, die eine große Gefahr für Juden in der Diaspora und in Israel darstellen: erstens die in- und ausländische islamische Welt, zweitens die Linken und Linksliberalen und drittens die „Neu-Altrechte“, womit die alten und neuen Nazis gemeint sind.
Ich zähle mich zur Kategorie der Linken und Linksliberalen, wusste bisher aber gar nicht, wie gefährlich ich bin. Das habe ich erst bei der Lektüre von Wolffsohns Buch erfahren. Denn für mich war der Einsatz für Menschenrechte und Völkerrecht immer die selbstverständlichste Sache der Welt. Und ich würde mich genauso für verfolgte und unterdrückte Juden einsetzen, wenn es in meiner Macht stände und wenn es sie noch irgendwo geben würde.
Aber nach Hitlers mörderischem Vorgehen gegen die Juden sind nach 1945 nirgendwo auf der Welt Juden Verfolgungen ausgesetzt. Durch die Entstehung des Staates Israel sind ganz im Gegenteil nicht „die“ Juden, aber die Zionisten zu Verfolgern und Tätern an dem von ihnen erobertem und unterworfenem palästinensischem Volk geworden. Palästinenser in der Nakba massenhaft vertrieben und so ihre Existenz zerstört zu haben, ist die Ursünde des Staates Israel. Dieser Staat hat sich bisher permanent geweigert, eine gerechte Lösung für die Palästinenser zu finden – ganz im Gegenteil, die Vertreibungen und Zerstörungen gehen weiter, wie es gerade in Gaza und im Westjordanland geschieht.
Menschen, die dieses unmenschliche, brutale Geschehen beim Namen nennen – also vor allem Linke und Linksliberale – sind für Wolffsohn „Pöbel“ und „Randalierer“, die bei ihren Demonstrationen brüllend durch die Straßen ziehen und Parolen wie „Tod Israel!“ und „Juden raus!“ schreien. Wer denkt da nicht automatisch an Hitlers Sturmtrupp SA? Diese Assoziation ist wohl beabsichtigt. Wolffsohn zieht diesen Vergleich nicht direkt, aber er fasst die Proteste, die junge „tetosterongesteuerte Jungmänner“ gegen Israels brutale Politik vorbringen, unter der Parole des „Schon wieder!“ zusammen. Soll heißen: „In Deutschland wird wieder den Juden als Kollektiv der Tod gewünscht. Wer hätte das gedacht?“ Da geht es ihm aber nicht nur um Randgruppen, denen er die Neuauflage des Nazismus vorwirft, denn er konstatiert: „Antisemitismus und Antizionismus sind heute die Eintrittskarten in die europäische Gesellschaft.“
Dass es bei den Demonstrationen und Protesten gegen Israels Politik und militärisches Vorgehen auch zu unerfreulichen Exzessen kommt, soll gar nicht bestritten werden, aber sie sind nicht die Regel. Und man kann sie nicht der ganzen Protestbewegung vorwerfen. Außerdem stehen diese Proteste natürlich in direkter Abhängigkeit von der Maßlosigkeit und Brutalität des israelischen Vorgehens gegen die Palästinenser. Und Israel hat da inzwischen jedes Maß überschritten.
Ist es also wirklich „schon wieder!“ so weit? Wolffsohn betont mehrmals, dass er Wissenschaftler sei und dass er sich in seiner Arbeit an Fakten ausrichten müsse. Aber Fakten, die die Zionisten in der Vergangenheit geschaffen haben und gerade auch wieder schaffen, kommen in keiner Zeile seines Textes vor: Nicht die Besatzung, nicht die Unterdrückung, nicht der Landraub, nicht die Diskriminierung, nicht die Apartheid, nicht die furchtbaren Verhältnisse in den israelischen Gefängnissen und die Folter an den palästinensischen Häftlingen.
Den 7. Oktober 2023 erwähnt er als „Mord- und Blutorgie“ der Hamas, als schlimmstes Vorgehen gegen Juden nach dem Holocaust. Aber mit keinem Wort geht er darauf ein, wie die israelische Armee anschließend gegen die menschlichen „Tiere“ (der damalige israelische Verteidigungsminister Gallant) im Gazastreifen genozidal vorging. Was nicht am Erscheinungstermin des Buches liegen kann, denn der ist mit 2024 angegeben. Und da war der Völkermord schon in vollem Gang.
Die Bezeichnung Völkermord für das Geschehen im Gazastreifen haben nicht „pöbelnde Linke und Linksliberale“ in die Diskussion gebracht, sondern sechs renommierte israelische Holocaust-Historiker: Omer Bartov, Amos Goldberg, Ahmuel Lederman, Lee Mordechai, Raz Segal und Barry Trachtenberg. Und wenn Wolffsohn den UN-Generalsekretär António Guterres verurteilt, weil der nach dem Hamas-Massaker angemerkt hatte, dass dieses Massaker nicht im luftleeren Raum entstanden sei, dann negiert Wolffsohn wieder einmal die Fakten: nämlich den Angriff der Hamas in die Kontinuität der israelischen bzw. zionistischen Geschichte einzuordnen. Also an die vielen Massaker zu erinnern, die die Zionisten an den Palästinensern begangen haben. Das berühmt-berüchtigste war das Massaker in dem Beiruter Flüchtlingslager Sabra und Schatila 1982, bei dem die israelische Armee zusammen mit den libanesischen Maroniten Tausende Palästinenser umgebracht hat. Das ganze Morden geschah unter der Oberaufsicht des damaligen israelischen Verteidigungsministers Ariel Sharon, der später sogar noch Ministerpräsident werden konnte.
Eine jüdische Israelin, die Journalistin Amira Hass, hat im Gegensatz zu Wolffsohn das Hamas-Massaker in den Verlauf der israelischen Geschichte eingefügt. Sie schrieb: „In wenigen Tagen erlebten die Israelis das, was die Palästinenser seit Jahrzehnten routinemäßig erlebten und noch immer erleben – militärische Übergriffe, Tod, Grausamkeit, getötete Kinder, auf der Straße aufgetürmte Leichen, Belagerung, Angst, Sorge um Angehörige, Gefangenschaft, Ziel von Rache sein, wahlloses tödliches Feuer auf Beteiligte (Soldaten) und Unbeteiligte (Zivilisten), eine Position der Unterlegenheit, die Zerstörung von Gebäuden, ruinierte Feiertage oder Feste, Schwäche und Hilflosigkeit angesichts allmächtiger bewaffneter Männer.“
Wolffsohn behauptet, es sei eine Irrlehre, dass der gegenwärtige Anti-Israelismus bzw. Antizionismus seine Ursache im israelisch-palästinensischen Konflikt habe, wie die Islam- und Islamismus-Apologeten argumentieren. Der islamische Anti-Judaismus sei viel früher entstanden. Wolffsohn bezieht sich da auf den Koran, in dem es judenfeindliche Passagen gibt. Gibt es also keinen kausalen Zusammenhang zwischen dem seit über 100 Jahren andauerndem Kampf der Zionisten gegen die Palästinenser, um sich mit allen Mitteln in den Besitz des Landes zu bringen und ihr Groß-Israel begründen zu können? Sind die fast 50 000 Toten im Gazastreifen (mit den Toten, die noch unter den Trümmern liegen, sollen es 160 000 sein), die völlige Zerstörung des Gebietes und damit auch der Existenzgrundlage von über zwei Millionen Menschen kein gewichtiger Anlass, Verzweiflung, Wut und Hass auf Israel zu erzeugen? In welcher Realität lebt Wolffsohn?
Der israelische Historiker Dr. Lee Mordechai von der Jerusalemer Hebräischen Universität hat ein umfassendes Dokument erstellt, in dem er die Kriegsverbrechen Israels im Gazastreifen nach dem 7. Oktober akribisch auflistet und minutiös beurkundet. Das Dokument findet sich in der von ihm errichteten Webseite https://witnessing-the-gaza-war.com/. Es handelt sich um das bislang systematischste in Israel produzierte Zeugnis von den massenweise durch die israelische Armee (IDF) in Gaza begangenen Verbrechen, das auf Hebräisch und zugleich auf Englisch erschienen ist. Da kann Wolffsohn sich informieren.
Ich habe in Wolffsohns Buch nicht erfahren, was genau Antisemitismus ist. Diese Ideologie hat ja mehrere Ausprägungen. Eine exakte Definition gibt er nicht. Aber für ihn ist Antisemitismus vor allem Kritik an Israel und die ist für ihn offenbar völlig grundlos. Eben eine Erfindung des „linken“ und „linksliberalen Pöbels“. Gelernt habe ich in seinem Buch wie gesagt, dass ich mit meinem Engagement für Völkerrecht und Menschenrechte zum „antisemitischen Pöbel“ gehöre, der Wolffsohn dazu treibt, das „Schon wieder!“ zu beschwören. Aber ich stehe nicht ganz allein da, es gibt Verbündete – sogar in Israel! Die israelische Soziologin Eva Illouz schreibt in ihrem Buch Israel, dass Menschen, die sich in diesem Staat für Menschenrechte einsetzen, als „Verräter“ verleumdet und geächtet würden. (Suhrkamp Verlag, Seite 10)
Der Antisemitismus-Begriff hat eine beträchtliche Wandlung durchlaufen. Richtete er sich früher vor allem als Hass, Verachtung und Diskriminierung gegen die Juden ganz allgemein, hat er heute vor allem die Funktion, Israel vor Kritik zu schützen. Diesen Antisemitismus-Begriff verteidigt Wolffsohn vor allem und er verteidigt im Einklang mit der offiziellen deutschen Politik einen Staat, der für die Menschenrechte von Nicht-Juden nur Verachtung übrighat. Ich kann den Verdacht nicht unterdrücken, dass seine ganze hysterische Aufregung über den „linken und linksliberalen Pöbel“ die Funktion erfüllen soll, von Israels Untaten im Gazastreifen und im Westjordanland abzulenken. Es ist ein alter Trick des Zionismus, immer dann die erneute Bedrohung der Juden zu beschwören, wenn er gerade wieder durch Ausübung brutaler Gewalt die weltweite Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Zudem: Bei aller Sorge um die innenpolitische Entwicklung in Deutschland: Die unmittelbare Machtergreifung der Nazis oder auch des „linken Pöbels“, was für ihn wohl letzten Endes dasselbe ist, steht nicht bevor. Wolffsohns Beschwörung des „Schon wieder!“ ist ein Produkt seiner Fantasie.
Die Lektüre seines Buches hat mich in meinem Engagement für Menschenrechte und Völkerrecht bestärkt, mit seiner inhumanen Position zum Palästina-Konflikt und der Verschleierung von Fakten habe ich nichts zu tun. Ich bleibe weiter mit voller Überzeugung Mitglied des „linken“ und „linksliberalen Pöbels“. Der israelische Philosoph Omri Boehm hat schon vor Jahren erklärt, dass Zionismus und Humanismus nicht vereinbar wären. Daran halte ich mich.
Zum Beleg, wie nötig heute Kritik an Israels Politik ist, möchte ich ein Zitat des israelischen Sozialwissenschaftlers, Historikers und Philosophen Moshe Zuckermann anführen. Er schreibt vor allem an die Deutschen gerichtet: „Weiß man in Deutschlands politischer Klasse wirklich nichts von der jahrzehntelangen Barbarei des israelischen Okkupationsregimes und seinen Auswirkungen auf Palästinenser und jüdische Israelis? Weiß man nicht, dass man sich mit einem Land solidarisiert, das Kriegsverbrechen begeht, das Völker- und Menschenrecht systematisch übertritt, das schon längst zu einem Apartheidstaat verkommen ist? Und wenn man das weiß, meint man nicht, die notwendige Verurteilung dieser barbarischen Praxis in irgendeiner Weise artikulieren zu sollen?“ Zuckermann folgert aus dem Gesagten: „Ein anständiger Mensch kann nicht mehr Zionist sein.“
Ich stehe voll hinter dieser Aussage von Moshe Zuckermann. Bin ich deshalb ein Antisemit?
Michael Wolffsohn: Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus, Herder Verlag 2024, ISBN 978-3- 451-07239-0, 12 Euro